Abendfrieden
»Das sagst du immer.« Sein Vater griff zum Glas und schmeckte mit Kennermiene den Weißwein durch.
Elisabeth Holthusen war auf den Dialog nicht eingegangen. Sie tupfte sich ihre schmalen Lippen ab und blickte angewidert zu ihrer Schwiegertochter hinüber. »Nein, nicht noch ein Glas, ich denke, du hast jetzt genug«, sagte sie scharf. Gleichzeitig fixierte sie den großen dunklen Fleck, der sich auf deren heller Bluse abzeichnete. »Du hast wieder ohne Schürze gekocht!«
In dem Moment krümmte sich Anja in einem plötzlichen Stöhnen über dem Tisch zusammen. Der Schmerz war so grell und schneidend, dass sich ihr Gesicht verzerrte. »Ich habe Bauchschmerzen – hier.« Sie drehte sich zu ihrem Mann. »Ich glaube – ich muss – mich hinlegen.«
»Mein Gott, was hast du denn?« Thomas wirkte irritiert. »Nur ruhig Blut«, sagte Henri Holthusen. »Deiner Frau ist wohl irgendetwas nicht bekommen.«
»Nicht bekommen?« Elisabeth lachte hysterisch auf. »Das Essen hat sie doch selbst gekocht!«
»Aber, Mutter! Das kann doch noch gar nicht wirken. Liebes« – er fasste seine Frau um die Schulter – »hast du vorher was Falsches zu dir genommen? Soll ich dich hochbringen?«
»Nein, nein.« Anja richtete sich mühsam auf. »Kann auch psychisch sein.« Henri nahm den letzten Löffel seiner Zitronencreme.
»Da hast du ausnahmsweise mal Recht. Reizkolon.
Hab ich neulich in der Apothekerzeitung gelesen.« Elisabeth legte ihr Besteck auf schräg.
Während Anja zur Treppe wankte, gingen die drei zu der cremefarbenen Sitzgruppe mit dem Butler-Tisch hinüber. »Ich mach uns einen Tee«, sagte die Schwiegermutter. »Und dann halten wir ausführlich Familienrat. Wir sind uns sicher einig, dass es so mit ihr nicht weitergehen kann.«
* * *
Es war kein frei stehendes Haus, nur ein unauffälliger Gelbklinker, gleich hoch eingefügt zwischen zwei spitzgiebeligen Stadtvillen. Zwei Stockwerke plus Dachgeschoss, das Dach leicht angeschrägt, um es den Villen anzupassen. Hier hatte es aus irgendwelchen Gründen, vielleicht durch den Krieg, eine Lücke gegeben, die später schlicht und unspektakulär gefüllt worden war. Aber die Adresse war noch immer eine der besten in Hamburg: Parkallee, Harvestehude. Wer hier wohnte, hatte es geschafft.
Regine Mewes konnten die Harvestehuder Bauschutz-Regelungen egal sein, sie hatte hier nur eingeheiratet. Da blieb man doch immer Gast, hatte sie schon oft gedacht, und manchmal sogar ein unerwünschter oder nur geduldeter.
Mit einem Ruck riss sie das große Fenster auf. Was für ein unerträglicher Gestank! Ob sie im Alter auch mal so stinken würde? Vielleicht war das eine Art Gesetz. Jeder würde im Alter stinken, keiner konnte dem entgehen. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind mit demonstrativ zugehaltener Nase durch das Zimmer ihrer Großmutter gelaufen war, das sie täglich von ihrem Mansardenzimmer aus passieren musste. »Mach sofort das Fenster zu! Willst du, dass ich mir den Tod hole?« Die rauchgeschädigte heisere Bass-Stimme ihrer Schwiegermutter riss sie in die Gegenwart zurück. »Jaaa doch! Mach ich gleich. Aber mal muss doch Sauerstoff herein. Oder willst du noch ersticken?«
»Das käme dir wohl zupass, mein Erbe verjubeln. Aber da kannst du lange warten.«
Regine schüttelte nur den Kopf und sog ein paar Portionen Luft ein. Dann schloss sie das Fenster.
Sie drehte sich zu ihrer Schwiegermutter, die bereits im Rollstuhl saß. Dick und schwer, in einer ausufernden Korpulenz, die den ganzen Raum einzunehmen schien. In ihrem flächigen, breit ins Kinn übergehenden Gesicht fielen sofort die Augen auf. Klein und grau blickten sie in unnachgiebiger Schärfe auf alles und jeden. »Wo bleiben meine Tabletten?«, fauchte sie. »Hol ich doch schon.« Regine ging zur Nussbaum-Kommode hinüber.
Das Schlimmste erledigte zum Glück eine Pflegerin. Dörte, eine stämmige junge Frau, die einen mit ihrer gnadenlosen frühmorgendlichen Munterkeit stets aufs Neue zusammenzucken ließ. Waschen, anziehen, das Bett machen und Toilettengang. Letzteres wollte sich Regine lieber nicht vorstellen. Dabei war sie durchaus nicht etepetete, eher im Gegenteil. Zupackend und patent, was sie als ehemalige Arzthelferin ja auch sein musste. Vor mehr als zwanzig Jahren, als sie bei Doktor Fiedler in der Internisten-Praxis in der Hansastraße arbeitete, hatte sie Amalie Mewes’ Sohn Blut abgenommen – so hatten sie und Norbert sich kennen gelernt. Noch immer war ihr Mann an demselben Umwelt-Institut
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