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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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wenn uns Tante Manci oder Onkel Móric anrufen, weil sie die
Einzigen sind, die ein Telefon haben, um uns zu sagen, dass es leider ein Tag
der schlechten Nachricht sei, dann wird es merkwürdig still in unserem
Wohnzimmer, möglicherweise gäbe es irgendwas über den Tod zu erzählen, wenn
wir da wären, wo alle unsere Verwandten leben, zumindest würden wir zuhören,
was man sich über den Verstorbenen erzählt, und wir wären sicher berührt, wenn
Mamika, die mit ihrer Stimme den verborgensten Winkel jeder Seele erreicht, ein
Lied singt, aber weil wir nicht da sind, wo die Menschen drei Tage lang
Abschied nehmen, bevor sie die sterblichen Überreste, wie man sagt, der Erde
überlassen, weil wir nur das Telefon haben, eine entfernte Stimme, die bezeugt,
dass etwas Unwiderrufliches geschehen ist, bewegen wir uns an diesem Tag der
schlechten Nachricht wie Geister, wir vermeiden es sogar, uns mit Blicken zu
berühren, und ich erinnere mich, dass Vater die gelben Chrysanthemen, die
Mutter auf den Wohnzimmertisch gestellt hat, mit einem heftigen Schwung in den
Mülleimer wirft, an einem Tag im Oktober 1979, als wir die Nachricht bekommen
haben, dass Vaters geliebte Grosstante gestorben ist. Keine Totenblumen, sagt
Vater mit rotem Hinterkopf und der Fernbedienung in der Hand, ich und Nomi, die
die Chrysanthemen seither die verbotenen Blumen nennen, weil wir sie nicht mehr
auf den Tisch stellen dürfen, und wenn wir dann den Friedhof in unserer Heimat
aufsuchen, die Gräber unserer Verstorbenen mit Blumen schmücken, sicher nie mit
Chrysanthemen, auch wenn es Herbst ist, dann sind wir zu spät gekommen, denke
ich, dann sind wir ein zweites Mal allein mit unserer Trauer.
     
    Und wir ahnten damals nicht,
dass in wenigen Jahren die Grabsteine umgestossen, die Granitplatten
zerpickelt, die Blumen geköpft werden würden, weil es im Krieg eben nicht
reicht, die Lebenden zu töten, und hätten wir es geahnt, hätten wir vermutlich
am Grab unserer Verstorbenen die Köpfe gesenkt, darum gebeten, dass unser
leiser Singsang sich zu einem magischen Schutz verdichtet, damit die Toten in
ihrer ewigen Ruhe, wie man sagt, nicht gestört würden, aber wir hätten auch
darum bitten können, dass die Regenwürmer, die Engerlinge, die Springschwänze,
die Tausendfüssler und Käfer aller Art nicht durch die plötzliche
Lichtveränderung wild durcheinanderkrabbeln und -kriechen, um dann, nach dieser
Störung, endlich wieder ins schützende Dunkel zu flüchten.
     
    Unser brandneuer Chevrolet
biegt links ab, in die Hajduk Stankova, zeichnet eine elegante Kurve,
bevor mein Vater abbremsen muss, weil die Strasse nicht geteert ist,
eingetrockneter Dreck mit einer dünnen Staubschicht, die unseren Chevrolet zu
einem bepuderten Unding macht, die Zivilisation, auch hier zum Stillstand
gebracht.
    Wir sind da, sage ich, unser
Wagen steht vor der Einfahrt, einem Wall aus ausgetrockneten, verzogenen
Holzbrettern, vielleicht zwei Meter hoch, drei Meter breit, der neugierigen
Blicken mehr als nur einen verheissungsvollen Spalt bietet, mein Vater stellt
den Motor ab, wir blinzeln zum kleinen, weissen Haus, zur Einfahrt gehörend,
von der Sonne grell ausgeleuchtet, das Haus von Mamika, der Mutter meines
Vaters, für mich der Prototyp eines Hauses, das die ersten und tiefsten
Geheimnisse birgt, und wir bleiben einen langen Moment sitzen, bevor Vater das
Einfahrtstor öffnet, unser Chevrolet langsam in den Innenhof rollt, ein kurzes
Hupen die Hühner und Enten aufscheucht.
    Gott hat euch gebracht,
Mamika, die nicht lächelt, die nicht weint, die diesen Satz mit der ihr eigenen
zarten Stimme sagt, uns einzeln die Wangen streichelt, auch meinem Vater,
ihrem Kind, Gottes Gunst, die uns in ihr Wohnzimmer, das gleichzeitig ihr
Schlafzimmer ist, führt, seine Gnade, die uns Traubisoda, Tonic, Apa Cola und
zwischendurch ein
    Schnäpschen serviert, Papst
Johannes Paul II., der uns wie immer in Form eines farbigen Bildchens
anlächelt, und ich, die in ängstlicher Genauigkeit das Zimmer inspiziert, mit
einem Blick die Kredenz, den Haussegen, die Flickenteppiche sucht, hoffe, dass
alles noch so ist wie früher, weil ich, wenn ich an den Ort meiner frühen
Kindheit zurückkehre, nichts so sehr fürchte wie die Veränderung: Das Erkennen
der immergleichen Gegenstände, die mich vor der Angst schützt, als Fremde in
dieser Welt dazustehen, von Mamikas Leben ausgeschlossen zu sein, ich muss, so
schnell es geht, zum Innenhof zurück, um meine ängstlichen

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