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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Erster Teil
1
    Wenn der Zufall nicht mitgespielt hätte, würde das, was Frank Friedmaier in jener Nacht tat, nur geringe Bedeutung gehabt haben. Natürlich hatte er nicht voraussehen können, daß sein Nachbar Gerhard Holst auf der Straße vorüberkommen würde. Aber daß Holst vorübergekommen war und ihn erkannt hatte, änderte alles. Doch auch das nahm Frank genauso hin wie alles, was sich später noch zutragen sollte.
    Deshalb bedeutete das, was in jener Nacht an der Mauer der Gerberei geschah, für den Augenblick wie für die Zukunft etwas anderes als zum Beispiel für ein Mädchen der Verlust der Jungfräulichkeit.
    Daran hatte Frank nämlich zunächst gedacht, und dieser Vergleich belustigte und ärgerte ihn gleichzeitig. Erst vor einer Woche hatte sein Freund Fred Kromer, der zweiundzwanzig Jahre alt war, einen Mann umgebracht, gerade als er von Timos Kneipe wegging, wo auch Frank noch wenige Minuten, ehe er sich an die Mauer der Gerberei drückte, gesessen hatte.
    Fiel aber Kromers Mord wirklich ins Gewicht? Kromer war zur Tür der Kneipe gegangen, wobei er sich, eine dicke Zigarre zwischen den Lippen, wichtigtuerisch wie gewöhnlich, seinen Pelz zuknöpfte. Seine Haut glänzte; sie war dick wie die Schale mancher Apfelsinen, und er schien ständig zu schwitzen.
    Jemand hatte ihn mit einem jungen Stier verglichen, der keine Gelegenheit findet, sich sexuell zu befriedigen. Sein fettes, glänzendes Gesicht, seine feuchten Augen und seine wulstigen Lippen ließen jedenfalls an etwas Geschlechtliches denken.
    Ein kleiner, hagerer Kerl mit blassem Gesicht, wie man vor allem nachts ihrer so viele sieht, hatte sich ihm blöde in den Weg gestellt – wer ihn sah, hätte nicht geglaubt, daß er genug Geld hatte, um bei Timo etwas zu trinken – und hatte ihm, während er ihn an seinem Pelzkragen packte, Vorwürfe gemacht.
    Was mochte Kromer ihm verkauft haben, womit er nicht zufrieden war?
    Kromer war, an seiner Zigarre ziehend, würdevoll weitergegangen. Der andere war hinter ihm hergegangen und hatte Krach geschlagen, vielleicht nur, weil er auf die Frau, die er bei sich hatte, Eindruck machen wollte.
    Die Leute in Timos Straße nehmen solchen Lärm nicht tragisch. Streifen kommen dort möglichst selten hin. Aber wenn eine Streife vorübergefahren wäre, hätte sie sich in die Sache einmischen müssen.
    »Geh schlafen«, hatte Kromer zu dem Gnom gesagt, der einen für seinen Körper zu großen Kopf hatte und zudem rothaarig war.
    »Erst dann, wenn du dir angehört hast, was ich dir zu sagen habe!«
    Wenn man sich alles anhören wollte, was die Leute einem zu sagen haben, würde man bald hinter Schloß und Riegel sitzen.
    »Geh schlafen!«
    Vielleicht hatte der Rothaarige zuviel getrunken. Er sah aber eher aus, als ob er süchtig wäre. Vielleicht bekam er die Droge von Kromer geliefert, und möglicherweise war sie diesmal zu sehr verfälscht gewesen.
    Kromer war mitten auf der Straße, die sich schwarz zwischen den Schneehaufen zu beiden Seiten dahinzog, stehengeblieben, hatte mit der linken Hand seine Zigarre aus dem Mund genommen und mit der rechten Faust nur einmal zugeschlagen. Dann hatte man zwei Beine und zwei Arme wie die einer Marionette in der Luft zappeln sehen, und darauf war die schwarze Gestalt in dem Schneehaufen am Rande des Bürgersteigs zusammengesackt. Das Seltsame war, daß neben dem Kopf eine Orangenschale lag, die man außer vor Timos Kneipe gewiß in der ganzen Stadt nicht hätte finden können.
    Timo war ohne Jacke und Mütze herausgekommen, so wie er hinter seiner Theke gestanden hatte, hatte die Marionette betastet und die Unterlippe ein wenig vorgeschoben.
    »Der hat sein Fett weg«, hatte er gebrummt. »In einer Stunde ist der steif.«
    Hatte Kromer den Rothaarigen wirklich mit einem Faustschlag getötet? Man konnte es denken. Der Kerl wird nicht mehr das Gegenteil behaupten können, denn auf Anraten Timos, der nie lange fackelt, hat man ihn zweihundert Meter weiter in das alte Bassin geworfen, in das sich die Abwässer ergießen und das deshalb nicht zufriert.
    Kromer darf also mit Fug und Recht behaupten, er habe den Kerl umgebracht, auch wenn Timo das Seine dazu beigetragen haben sollte, und selbst wenn die Marionette vielleicht noch nicht ganz tot war, als man sie über die kleine Backsteinmauer hinunterwarf.
    Der Beweis dafür, daß Kromer der Sache kein Gewicht beimißt, ist, daß er weiter die Geschichte von dem erdrosselten Mädchen erzählt. Aber das ist nicht in der Stadt

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