Acacia 01 - Macht und Verrat
haben die Stadt Vedus geplündert. Ich sage geplündert, doch in Wahrheit haben sie sie einfach überrollt. Sie haben nichts übrig gelassen und alles mitgenommen, was von Wert war.«
»Woher willst du wissen, dass Hanish Mein dahintersteckt?«
Die Botin sah dem Kanzler in die Augen. Obwohl sie höchstens fünfundzwanzig war, hatte sie offenbar schon viel Leid gesehen und sich große Beharrlichkeit angeeignet. Thaddeus’ Erfahrung nach traf dies auf viele weibliche Soldaten zu. Im Großen und Ganzen waren sie aus edlerem Stahl gegossen als ein durchschnittlicher Mann. Diese Frau wusste, wovon sie redete, und das sollte er anerkennen.
Thaddeus erhob sich und bedeutete der Botin, vor eine große Landkarte des Reiches zu treten, welche die gegenüberliegende Wand einnahm. »Zeig es mir auf der Karte. Sag mir, was du weißt.«
Ihre Unterhaltung dauerte Stunden; der Kanzler stellte zunehmend ernste Fragen, die Frau beantwortete sie so eingehend, wie sie es vermochte. Während er den Blick über die Karte schweifen ließ, stellte Thaddeus sich unwillkürlich die windumtoste Einöde vor, von der sie sprachen – keine andere Region der Bekannten Welt war so unwirtlich wie das Gouvernement Mein. Es war eine raue Hochebene, wo der Winter neun Monate währte, bewohnt von blonden Menschen, die dort nur mühsam ihr Auskommen fanden. Das Plateau trug den Namen des da ansässigen Volkes, doch die Mein stammten nicht aus der Region. Früher waren sie ein Festlandclan aus dem östlichen Vorgebirge der Senivalischen Berge gewesen, von den Acaciern jener Zeit gar nicht so verschieden. Nachdem die Frühacacier sie verdrängt hatten, waren sie im Norden sesshaft geworden und nannten ihn nun seit zweiundzwanzig Generationen ihr Zuhause. Genauso lange lebten die Acacier in Acacia.
Die Mein waren ein kriegerisches, streitlustiges Stammesvolk, ebenso rau und unerbittlich wie das Land, das sie bewohnten. Im Mittelpunkt ihrer Kultur stand ein boshafter Pantheon von Geistern, die sie Tunishni nannten. Gemeinsam war ihnen der Stolz auf ihre Ahnen, den sie durch ihre abgeschiedene Lebensweise bewahrten. Sie heirateten nur untereinander und missbilligten geschlechtliche Beziehungen zu anderen Völkern. Da sie alle reiner Abstammung waren, durfte jeder Mann den Thron für sich reklamieren, der siegreich aus dem Kampf auf Leben und Tod hervorging, den sie als Maseret bezeichneten.
Dieser Brauch sorgte für einen raschen Herrschaftswechsel, und jeder frisch gekrönte Häuptling musste sich die Anerkennung des Volkes von neuem erwerben. War er gekrönt, nahm der neue Monarch zum Zeichen, dass er die Allgemeinheit repräsentierte, den Namen seines Volkes an. Somit hatte ihr gegenwärtiger Anführer, Hanish aus dem Geschlecht Heberen, an dem Tag, da er siegreich aus seinem ersten Maseret hervorgegangen war und die Krone seines toten Vaters übernommen hatte, den Namen Hanish Mein angenommen. Dass Hanish von glühendem Hass auf Acacia verzehrt wurde, war nichts Neues, jedenfalls nicht für den Kanzler. Was die Soldatin ihm jedoch berichtet hatte, überstieg bei weitem seine schlimmsten Befürchtungen.
Auf Thaddeus’ Drängen hin verzehrte die Botin die Begrüßungsspeisen. Der Diener brachte daraufhin ein neues Tablett, diesmal eine Platte mit Käse von jener harten Sorte, der mit einem scharfen Messer geschnitten werden musste. Der Kanzler schnitt ein paar Stücke ab, dann richtete er sich mit dem Messer in der Hand auf. Während er lauschte, musterte er sein Spiegelbild in der Klinge.
Die Botin kämpfte gegen die Müdigkeit an, doch als die Stunden vor Morgengrauen anbrachen, fielen ihr die Augen zu. »Ich fürchte, ich kann nicht mehr«, sagte sie schließlich. »Aber ich habe Euch bereits alles gesagt. Bekomme ich jetzt eine Audienz beim König? Was ich sonst noch weiß, ist allein für seine Ohren bestimmt.«
Bei der Erwähnung des Königs wurde Thaddeus von einer Erinnerung überwältigt, mit der er in diesem Moment am wenigsten gerechnet hätte. Er erinnerte sich an einen Tag im vergangenen Sommer, als er Leodan im Labyrinthgarten des Palasts angetroffen hatte. Der König hatte in einem Alkoven auf einer steinernen Bank gesessen, zu beiden Seiten eingerahmt von überranktem, uraltem Stein, der früher einmal zum Fundament der bescheidenen Behausung des ersten Königs gehört hatte. Sein jüngster Sohn Dariel saß auf seinem Schoß. Beide betrachteten einen kleinen Gegenstand in der Hand des Jungen. Als Thaddeus näher kam, blickte der
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