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Acacia 01 - Macht und Verrat

Acacia 01 - Macht und Verrat

Titel: Acacia 01 - Macht und Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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stemmte ihn hoch und schritt auf den Abgrund zu. Der Wind umtoste sie mit lautem Geheul, dennoch schaffte er es bis zum Rand und schleuderte seinen Bruder in die Tiefe.
    Cashen aber starb nicht. Er prallte auf, überschlug sich und rollte den Hang hinunter. Dann kam er wieder auf die Beine und rannte los. Er stürmte über den Talboden und gelangte zur anderen Seite. Als er den Hang erklommen hatte, zerriss ein Blitz den Himmel. Bashar schlug geblendet die Hände vor die Augen. Als er wieder sehen konnte, stellte er fest, dass sein Bruder vom Blitz getroffen worden war. Anstatt jedoch tot zusammenzubrechen, zitterte er vor Energie. Blaue Flammen tanzten über seine Haut und das verkohlte Fleisch. Doch er starb nicht. Er lief abermals los, und zwar schneller als zuvor. Er machte Riesenschritte, erklomm den gegenüberliegenden Berggipfel und sprang darüber hinweg, ohne sich auch nur einmal nach seinem Bruder umzusehen.
    Mena wartete eine Weile, dann fragte sie: »Ist die Geschichte jetzt zu Ende?«
    Leodan machte »Pst!« und zeigte auf Dariel, der eingeschlafen war. »Nein«, sagte er und schob die Hände unter den Jungen, »das ist nicht das Ende der Geschichte, aber für heute reicht es. Bashar begriff, dass ein Gott eingegriffen und seinen Bruder gesegnet hatte. Und da wurde ihm klar, dass sie fortan Feinde wären und dass ihnen ein langwieriger Kampf bevorstand. Um die Wahrheit zu sagen, sie kämpfen immer noch.« Leodan richtete sich mit dem schlafschweren Dariel auf den Armen auf. »Wenn man die Ohren spitzt, kann man manchmal hören, wie sie sich in den Bergen gegenseitig mit Steinen bewerfen.«
    Als sie zusah, wie der Rücken ihres Vaters sich entfernte, sich dem gelben Schein der Lampe im Gang zuwandte und verschwand, musste Mena sich beherrschen, um ihm nicht hinterherzurufen. Stattdessen gab sie einen Laut von sich, als hätte sie unbewusst den Atem angehalten und schnappe jetzt nach Luft. Woher kam nur diese plötzliche schreckliche Gewissheit, dass ihr Vater auf dem Gang auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde. Früher hatte sie ihn häufig zurückgerufen, um sich trösten zu lassen und ihm Geschichten und Versprechen abzuringen, bis er irgendwann die Geduld verloren hatte oder bis sie vor Erschöpfung eingeschlafen war. In letzter Zeit aber war ihr das peinlich geworden. Mit ihrer Angst musste sie allein fertig werden, und das tat sie auch.
    Sie merkte, dass sie die Finger in das Bettlaken gekrallt hatte. Sie löste die Finger und entspannte sie, um die Ruhe von den Händen aus in ihren ganzen Körper strömen zu lassen. Ihre Befürchtung war grundlos, sagte sie sich. Ihr Vater würde sie nie verlassen. Das hatte er ihr felsenfest versprochen. Warum konnte sie ihm nicht einfach glauben? Und warum kam ihr dieser Wunsch wie ein Verrat an ihrer verstorbenen Mutter vor? Sie wusste, dass die meisten Kinder ihres Alters kein Elternteil verloren hatten. Die Erinnerungen des schlafenden Dariel zum Beispiel waren so flüchtig, dass er seine Mutter nicht vermisste. Er wusste gar nicht, was er verloren hatte. Unwissenheit war wirklich ein Geschenk. Wäre doch sie das jüngste Kind gewesen und nicht Dariel! Sie war sich nicht sicher, ob das nicht gemein gegenüber ihrem Bruder war, und sie dachte noch lange darüber nach.

3

    Sobald Thaddeus Clegg in sein Zimmer trat, sah er, dass die Frau jeden Moment vor Erschöpfung zusammenbrechen würde. Sie stand in der Mitte des von Fackeln erhellten Raums, das Gesicht der gegenüberliegenden Wand zugewandt, eine Silhouette im rötlichen Feuerschein des Kamins. Sie schwankte hin und her, mit den unbeholfenen, ziellosen Bewegungen des wahrhaft Erschöpften. Ihre Kleidung war so schmutzig und durchnässt, als käme sie geradewegs vom Feld, doch unter der Dreckkruste funkelte ein Kettenhemd. Die eng sitzende Helmkappe war mit einem gelben Pferdeschweif geschmückt und deshalb mühelos zu erkennen.
    »Botin«, sagte Thaddeus, »ich entschuldige mich dafür, dass ich dich so lange warten ließ. Meine Bediensteten lassen sich nicht einmal mit den besten Argumenten von Förmlichkeiten abhalten.«
    Die Augen der Frau funkelten. »Warum wurde ich hier festgehalten, Kanzler? Die Botschaft, die ich überbringe, stammt von General Leeka Alain der nördlichen Schutztruppe und ist für König Leodan bestimmt.«
    Thaddeus wandte sich seinem Diener zu, der ihm wie ein Schatten gefolgt war, und befahl ihm, der Botin einen Teller mit Essen zu bringen. Als der Mann schlurfend das Zimmer

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