Acacia 01 - Macht und Verrat
Epilog
Es war ein kühler, windiger, bewölkter Nachmittag. Das trostlose Meer rings um Acacia war mit weißen Schaumkronen bedeckt. Die Prozession verließ den Palast durch das Westtor und begab sich über die Hauptstraße zum Hafenfels. Die Teilnehmer schritten über die gewundenen Grate, eine lang gezogene Formation trauernder Menschen. Die umliegenden Hügel fielen zu Tälern ab, die ungestüm dem grauen, herbstlichen Meer entgegentaumelten. Mena ging mit ihren verbliebenen Geschwistern und den Überresten der acacischen Aristokratie an der Spitze. Sie folgte einem geschmückten Wagen, auf dem zwei Urnen standen. Die eine enthielt die Asche Leodan Akarans. Thaddeus Clegg hatte sie all die Jahre über aufbewahrt. In der anderen waren die sterblichen Überreste von Aliver Akaran, einem Knaben, der zu einem Führer herangewachsen war, an den sich zukünftige Generationen erinnern würden, ein Prinz, der niemals ganz König geworden war.
Es war fast zehn Jahre her, dass Mena diesen Weg das letzte Mal genommen hatte. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie mit ihrem Vater und ihren Geschwistern hier entlanggeritten war. Damals hätte sie sich niemals träumen lassen, dass ihr Vater sterben würde, oder Aliver, oder dass sie zwischen diesen grauenhaften Ereignissen so seltsame, verschlungene Leben führen würden. Während sie schweigend dem Wagen folgte, musste Mena an das Kind denken, das sie damals gewesen war. Das Gebüsch ringsumher erinnerte sie daran, dass sie sich einmal vor Akazien gefürchtet hatte. Eine seltsame Vorstellung – ein Baum ist schließlich nur ein Baum -, allerdings wusste sie, dass in der Zwischenzeit andere Ängste an die Stelle der Kindheitsfurcht getreten waren.
Jetzt fürchtete sie sich vor ihren Träumen. Allzu häufig begegnete sie darin Larken, dem ersten Menschen, den sie getötet hatte. Jedes Mal glich der Ablauf dem tatsächlichen Geschehen: Sie war voller Selbstgewissheit, bewegte sich zielstrebig und konnte ihm die Klinge ohne die leisesten Gewissensbisse ins Fleisch treiben. Mit den Erinnerungen an die Schlachten in Talay war es das Gleiche. Besonders oft träumte sie von dem Nachmittag nach Alivers Tod vor drei Monaten, als sie mit solcher Mordlust getötet hatte, als wäre dies ihr einziger Lebenszweck. Beim Aufwachen waren ihr all die Einzelheiten jedes Todes, den sie herbeigeführt hatte, so gegenwärtig, als hingen Hunderte von individuellen Porträts zwischen ihr und der Welt. Sie wusste, dass dergleichen sie noch jahrelang verfolgen würde. Doch es war nicht wirklich das, wovor sie sich fürchtete. Das Beängstigstende war zu wissen, dass sie jederzeit wieder töten könnte und würde. Sie hatte tatsächlich ein wenig von Maeben verinnerlicht. Es würde immer da sein, unter ihrer Haut. Maebens Geschenk der Raserei.
Sie war nicht die Einzige, die vom Krieg Narben davongetragen hatte. Hinter ihr schritt Dariel, Wren an seiner Seite. Die junge Frau schien sich in dem förmlichen Trauerkleid unwohl zu fühlen. Sie war ihr Leben lang Seeräuberin gewesen, und das sah man ihr noch immer an, an ihrer lässigen, ein wenig aggressiven Haltung. Doch Mena mochte sie und hoffte, dass sie ihren Bruder noch lange glücklich machen würde. Dariel brauchte Freude. Er lachte noch immer gern und hatte stets einen Scherz auf den Lippen. Wenn er grinste, war ihm eine mutwillige Schönheit zu eigen, doch er schien zu glauben, er allein sei schuld an Alivers Tod. Wenn er sich unbeobachtet wähnte, trug er diese Last wie einen Mantel aus Blei. Mena hatte ihm des Königs Vertrauten noch nicht übergeben. Im Moment war er noch nicht bereit dafür, aber eines Tages würde er es sein.
Andere hatten die gewaltsame Auseinandersetzung nicht überlebt. Thaddeus Clegg war im Palast gewesen, als die Numrek angegriffen hatten. Offenbar war er bei dem Gemetzel umgekommen. Weshalb er sich dort aufgehalten hatte und ob er Das Lied von Elenet entdeckt hatte, würde vielleicht niemals bekannt werden. Das Buch war unauffindbar. Corinn bezweifelte sogar, dass es überhaupt existierte. In Thaddeus’ Brusttasche hatte sich ein Zettel gefunden, auf dem zu lesen stand, wo er König Leodans Asche all die Jahre über verwahrt hatte. Dies war der Grund dafür, dass sie jetzt im Besitz der sterblichen Überreste des Königs waren.
Leeka Alains Schicksal lag ebenfalls im Dunkeln. Einige behaupteten steif und fest, sie hätten gesehen, wie er sich den Santoth angeschlossen habe, als sie nach Vollendung ihres
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