Aelita
bedeckten sie und trugen sie fort. Mit einer letzten Kraftanstrengung sprang er hoch und griff nach dem Saum ihres schwarzen Mantels, doch das Aufblitzen von Schüssen und dumpfe Schläge gegen die Brust schleuderten ihn zurück, an die goldene Tür der Höhle….
Gegen den Wind ankämpfend, lief Losj weiter die Uferstraße entlang. Blieb von neuem stehen, drehte sich um sich selbst in dem Schneegestöber und rief, ebenso wie damals in der Finsternis des Weltenraumes:
»Sie lebt, sie lebt… Aëlita, Aëlita…«
Ein rasender Windstoß erfaßte den zum erstenmal auf der Erde ausgesprochenen Namen und verwehte ihn zwischen den fliegenden Schneeflocken. Losj drückte das Kinn tiefer in den Schal, steckte die Hände tief in die Taschen und ging taumelnd weiter, nach Hause.
Vor der Haustür stand ein Automobil. Gleich weißen Fliegen wirbelten die Schneeflocken in den rauchgrauen Lichtstreifen seiner Scheinwerfer. Ein Mann in zottigem Pelz tänzelte auf dem Gehsteig frierend von einem Fuß auf den anderen.
»Ich will Sie mitnehmen, Mstislaw Sergejewitsch«, rief er Losj fröhlich zu, »setzen Sie sich in den Wagen und fahren wir!«
Das war Gussew. Er erklärte hastig: Heute abend um sieben Uhr wartete die Funkentelefonstation – wie schon in dieser ganzen Woche – auf den Empfang von überaus starken unbekannten Signalen. Ihre Chiffrierung sei unverständlich. Bereits seit einer ganzen Woche ergingen sich die Zeitungen sämtlicher Erdteile in Mutmaßungen bezüglich dieser Signale; man vermute, daß sie vom Mars kämen. Der Leiter der Funkstation habe Losj eingeladen, die geheimnisvollen Ätherwellen heute abend zu empfangen.
Losj war mit einem Satz, ohne ein Wort zu sagen, in dem Automobil. Weiße Flocken tanzten ihren rasenden Reigen in den Lichtkegeln der Scheinwerfer. Der Schneesturm drang in den Wagen und schlug ihnen ins Gesicht. Über der verschneiten, öden Newa loderte der lilafarbene Lichtschein der Stadt, blinkten die Reihen der Laternen an den Kais – überall Lichter, viele Lichter…. In der Ferne heulte die Sirene eines Eisbrechers, der irgendwo das Eis zertrümmerte.
Ganz am Ende der Straße des Morgenrots, auf einem verschneiten freien Platz, hielt das Automobil unter sturmgeschüttelten Bäumen vor einem kleinen Hause mit rundem Dach. In den gitterartig durchbrochenen Türmen, die sich hoch oben in den Schneewolken verloren, und in den Drahtnetzen heulte pfeifend der Wind. Losj öffnete die vom Schnee verwehte Tür, betrat das warme Haus, legte Hut und Schal ab. Ein rotbäckiger rundlicher Mann, der Losjs von der Kälte rotgewordenen Finger mit seinen warmen molligen Händen festhielt, begann ihm etwas zu erklären. Der Zeiger der Uhr ging auf sieben.
Losj nahm vor dem Empfangsgerät Platz und setzte sich die Kopfhörer auf. Der Uhrzeiger kroch so langsam vorwärts. O Zeit, o ihr eiligen Schläge des Herzens, eisiger Raum des Weltalls!…
Ein langsames Geflüster ertönte in seinen Ohren. Losj schloß sogleich die Augen. Das entfernte, erregte, langsame Flüstern wiederholte sich. Ein seltsames Wort wurde immer aufs neue ausgesprochen. Losj strengte das Gehör an. Gleich einem feinen Blitzstrahl durchdrang sein Herz eine entfernte Stimme, die traurig in einer unirdischen Sprache wiederholte:
»Wo bist du, wo bist du, wo bist du, Sohn des Himmels?«
Die Stimme verstummte. Losj blickte vor sich hin, mit geweiteten, weiß gewordenen Augen… Die Stimme Aëlitas, die Stimme der Liebe, der Ewigkeit, der Sehnsucht, sie flog durch das ganze Weltall – rufend, anrufend, flehend: Wo bist du, wo bist du, Liebe….
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Nachwort
Im Jahre 1922 hält sich Alexej Nikolajewitsch Tolstoi in Berlin auf. In der sowjetischen Botschaft, die dem russischen Emigranten Asyl gewährt, schreibt er seinen phantastisch-utopischen Roman »Aëlita«. Die Arbeit an diesem Roman bedeutet für Tolstoi den entscheidenden Schritt auf dem Weg in seine Heimat; in »Aëlita« setzt er sich zum ersten Mal mit der russischen Revolution auseinander und versucht, sie als Künstler zu verstehen, in ihr eine gesetzmäßige Etappe in der Menschheitsgeschichte zu sehen und die Geschichte nicht nur als Summe vergangener Epochen, sondern als zukunftsweisende Erfahrung zu begreifen.
Alexej Tolstoi (1883—1945), aufgewachsen in der Ruhe und Einsamkeit eines Dorfes, bereits früh mit der Literatur bekannt geworden, geht 1901 nach Petersburg, um am Technologischen Institut zu studieren. Hier wird er mit der
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