Der Sommerfaenger
1
Die Luft war so heiß, dass sie beim Einatmen schmerzte. Sie flirrte über dem aufgeweichten Asphalt und ließ das stumpfe alte Kopfsteinpflaster auf dem Marktplatz glänzen. Die Urlauber suchten unter den Sonnenschirmen der Straßencafés und Restaurants Abkühlung bei kalten Getränken. Ihre Stimmen summten ermattet und kraftlos im blendenden Licht des Julinachmittags. Wie ausgestorben lagen die Gebäude da.
Ihm war zum Heulen zumute. Alles hatte sich mit einem Schlag verändert. Damals. Nichts war ihm geblieben. Die vertrauten Häuser hatten sich in die Kulisse eines Albtraums verwandelt, in dem er zappelnd gefangen war.
Hin und wieder wurde er gegrüßt und nickte knapp zurück. Kein Gruß, kein Wort hatte mehr Bedeutung.
Seit einer Stunde lief er in Bautzen umher, ohne Plan und ohne Ziel. Seit einer Stunde zermarterte er sich das Hirn. Wie so oft. Und wie so oft vergebens.
Er war nicht der Typ, der an das Schicksal glaubte und alles gottergeben ertrug. Er war nicht geschaffen für Demut und Duldsamkeit. Er nahm sich, was er wollte, notfalls mit Gewalt. So hatte er es sein Leben lang gehandhabt, und er hatte nicht vor, damit aufzuhören.
Vor einem kürzlich eröffneten Geschäft standen zwei goldfarbene Blumenkübel mit weiß blühenden Rosenbüschen. Er brach eine Blüte ab und roch daran. Sie duftete nicht, und das erschien ihm wie ein Sinnbild für das, was ihm widerfahren war – sein Leben hatte alle Leichtigkeit verloren.
Er drehte die Rose zwischen den Fingern, während er seine Wanderung wieder aufnahm und weiter vor sich hingrübelte. Dann blieb er plötzlich stehen. Es gab nur einen einzigen Weg, und das hatte er tief in seinem Innern von Anfang an gewusst. Genau das hatte ihn die ganze Zeit gequält. Er hatte es viel zu lange hinausgeschoben.
Mit einem Lächeln überreichte er die Rose dem nächstbesten Mädchen, dem er begegnete. Sie war hübsch und gebräunt und ihr blondes Haar schimmerte silbrig im strahlenden Licht. Errötend drückte sie die Blüte an ihre Lippen, und er wünschte, er könnte sich auf ein Abenteuer einlassen.
Doch er hatte keine Zeit.
Jetzt, wo er wusste, was er tun wollte, musste er einen Plan ausarbeiten, Vorkehrungen treffen und endlich handeln.
Rache .
Ein schönes Wort.
*
Ich trat in den schattigen Innenhof hinaus und atmete unwillkürlich ruhiger. Das hier war mein liebster Ort, eine kleine Oase mit Vogelgezwitscher und Wassergeplätscher und dem Duft nach Lavendel, Rosen und Thymian und all den anderen Kräutern, die Merle mit erstaunlich dekorativem Geschick zwischen die übrigen Pflanzen gesetzt hatte.
Man hätte glauben können, sich in Italien oder Spanien zu befinden. Unser Bauernhof war ein Glücksgriff gewesen. Ich nahm ihn noch immer nicht als selbstverständlich, freute mich jeden Morgen aufs Neue darüber, dass wir hier leben durften, Merle, Mina, Ilka, Mike und ich, wobei wir uns nicht alle ständig hier aufhielten.
Mina nahm an einem Therapieprojekt teil und wohnte mit vier etwa gleichaltrigen Patienten in einer Art Übergangs- WG in der Nähe der Klinik, in der sie behandelt wurde. Sie besuchte uns ab und zu und genoss es, dann kleinere Renovierungsarbeiten zu erledigen. Wir waren längst noch nicht fertig mit den Umbauten und Verschönerungen und dankbar für jede Hand, die mit anpackte.
Ilka und Mike waren von ihrer einjährigen Brasilienreise zurückgekehrt, die Rucksäcke voller Geschichten. Sie hatten sich mit Volldampf an die Einrichtung ihrer Zimmer gemacht, erkundeten das dörflich verträumte Birkenweiler und die Nachbarschaft und gewöhnten sich allmählich wieder an unser Zusammenleben.
Abgesehen von Mina, die noch eine Weile mit ihrer Therapie beschäftigt sein würde, hatten wir alle entscheiden müssen, welchen Weg wir jetzt einschlagen wollten. Ilka hatte sich für ein Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf beworben. Nachdem ihr Bruder seinen schweren Verletzungen erlegen war, hatte sie endlich aufgehört, sich gegen ihre Begabung zu wehren.
Sie hatte viel gezeichnet auf ihrer langen Reise und war aus seinem Schatten als berühmter Maler herausgetreten. Die Skizzen, die sie mitgebracht hatte, hauten einen um. Sie waren so grandios, dass ich mich fragte, was sie einer wie Ilka an der Kunstakademie eigentlich noch beibringen wollten.
Merle hatte eine feste Stelle im Tierheim angenommen. Sie schlug sich nicht mit Fragen nach der Zukunft herum. Ihre Zukunft war die Gegenwart und sie kannte ihre Prioritäten genau. Obwohl
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