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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Drisiano an.«
    Die Anwesenden applaudierten begeistert.
    »In Rom ist man davon überzeugt, dass Gottes Hand den Jungen berührt hat, und durch ihn berührt sie uns sterbliche Sünder.«
    »Amen!«, sagte Enrico Corrado laut und bekreuzigte sich.

    »Durch Raffaele kommt Gott zu uns«, fuhr der Bischof fort und faltete die Hände. »Der Wille unseres Herrn geschieht durch den Knaben. Die ganze Welt soll es wissen. Die ganze Welt soll daran teilhaben. Das Wunder von Drisiano ist Gottes Wunder in unserer Mitte. Der Herr hat einen einfachen Knaben gewählt, um uns zu sagen: Folgt nicht dem Pfad der falschen Propheten. Folgt dem Weg der Kirche, denn es ist der Weg Gottes, des Schöpfers der Erde und der Menschen.«
    »Amen!«, rief Corrado erneut, und die anderen stimmten mit ein.
    »Entschuldigen Sie bitte, Euer Exzellenz«, warf einer der Journalisten ein und trat vor. »Als Sie eben von falschen Propheten sprachen … Meinen Sie damit Mohammed und den Islam? Glauben Sie, Gott will uns durch Raffaele zeigen, dass die Lehren des Islam falsch sind und die des Vatikans richtig?«
    Es wurde still im Zimmer.
    Bischof Munari zögerte und war sich der Brisanz dieses Themas sehr wohl bewusst. »Nur Gott kann wahre Wunder vollbringen«, sagte er ausweichend. »Und das erleben wir hier in Drisiano: wahre Wunder.« Er hob die Hand und kam weiteren Fragen zuvor. »Haben Sie ein wenig Geduld. Sie bekommen später Gelegenheit, Fragen zu stellen. Zuerst möchte ich dieser Gemeinde - und mit Ihrer Hilfe der ganzen Welt - mitteilen, was in naher Zukunft geschehen wird. Es gab Stimmen im Vatikan, die vorschlugen, den Jungen nach Rom zu holen, weil angeblich nur dort ein angemessener Rahmen für das Heil existiert, das er uns bringt. Aber es freut mich sehr, sagen zu können, dass der Heilige Vater meiner Empfehlung gefolgt ist: Raffaele bleibt hier in Kalabrien, wo er seine Wurzeln hat, hier in Drisiano. Aber dieser Ort wird sich verändern. In den
nächsten Monaten wird in der Nähe ein großes Wallfahrtszentrum entstehen. Menschen aus aller Welt werden kommen, um das Dorf zu besuchen, in dem Raffaele geboren wurde, und um sich von ihm heilen und segnen zu lassen.«
    Wieder ertönte Applaus.
    Veränderungen, dachte Don Vincenzo und erinnerte sich an Raffaeles Worte. Sein ganzes Leben lang hatte er sich Gottes Nähe erhofft, und nun glaubte er, sie endlich gefunden zu haben, aber trotzdem fühlte er sich plötzlich von Unbehagen erfasst. Veränderungen, die nicht nur Drisiano betrafen, sondern die ganze Welt … Und von welchen Stimmen hatte der Junge gesprochen?

4
    Hamburg
    V on einer sonderbaren Faszination heimgesucht, stellte Sebastian sich vor, wie der Mann abdrückte, wie einen Moment später die Kugel aus dem Lauf der Waffe kam, durch die Stirn in den Kopf schlug - oder durchs Auge; tat das mehr weh? - und seinem Leben, das in den letzten Monaten, nach der Rückkehr aus Italien, recht erbärmlich verlaufen war, ein Ende setzte. Einfach so. Jetzt. Hier. An einem kalten, verregneten Septemberabend in Hamburg. Bumm, Ende des Films. Für immer.
    Ihre Blicke trafen sich, und in den Augen des Mannes sah Sebastian eine Verzweiflung, wie sie tiefer und schrecklicher nicht sein konnte, begleitet von einem Schmerz, der die letzten Reste von Rationalität zerfetzt hatte. Worte erübrigten sich, denn es gab niemanden mehr, der sie empfangen und ihre Bedeutung verstehen konnte.
    Der Mann schnitt eine Grimasse, und seine Lippen teilten sich zu einem lautlosen Schrei. Dann drehte er die Waffe, steckte sich ihren Lauf in den offenen Mund und drückte ab.
    Ein Leben endete, aber nicht das von Sebastian.
    Eine Minute verstrich, vielleicht auch zwei, und Sebastian starrte noch immer auf den Mann hinab, der sich selbst eine
Kugel in den Kopf gejagt hatte, als ihm jemand die Hand auf die Schulter legte.
    »Bastian?«
    »Er hat es nicht mehr ausgehalten«, sagte er und hörte den rauen Klang seiner Stimme. »Es war zu viel für ihn.«
    »Was war zu viel für ihn?«
    »Die Verzweiflung.« Das Gesicht des Toten war nicht etwa erschlafft, sondern in einer Grimasse erstarrt. »Und der Schmerz. Er hat ihn um den Verstand gebracht.«
    »Es ist nicht nur ihm so ergangen.«
    Die Stimme klang vertraut, und als Sebastian den Kopf drehte, sah er, wem sie gehörte: seinem alten Freund Alexander Torensen, Kommissar der Kriminalpolizei. »Nicht nur ihm?«
    Torensen deutete zum Apartmenthaus. »Eine junge Mutter hat erst ihre beiden Kinder und dann sich selbst

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