Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
SCHWARZES EIS
Der Kosake lehnte sich weit aus dem Sattel und schlug die Pika in das Tor. Von der Wucht der Lanze flog es auf und gab den Weg frei für die beiden Reiter. Eines der Pferde wollte nicht gehorchen, es musste mit einem Peitschenhieb auf den Hof gezwungen werden. Während sein Reiter das Tier zu beruhigen suchte, winkte der andere die Tagelöhner heran, die um einen schmutzigen Karren versammelt auf der Straße warteten. Die Männer schleppten Eimer voller Kalk am Haus und seinen Bewohnern vorbei in den Garten zur Jauchegrube. Sie verstreuten die weißgelben Klumpen und machten sich eilig davon.
Pawel schaute den Reitern nach, deren Silhouetten sich scharf gegen den Abendhimmel über der Steppe abzeichneten. Die Fähnchen an den Spitzen ihrer Lanzen wehten im Wind. 1892 war das Jahr der großen Choleraepidemie in Jusowka. Der Kalk, den die Kosaken brachten, sollte die Seuche im Kohlerevier am Don eindämmen.
Das ist die älteste Erinnerung unserer Familie, die ich kenne. Mit meinem Großvater, Pawel Alexandrowitsch Alförow, hatte ich am Abend in der Kate auf der Krim einen Kessel Tee getrunken, während wir nach den ersten Bildern seiner Kindheit suchten. Wir kramten in den Geschichten des Lebens und kamen von seiner Geburt 1890 unter dem Zaren zu Lenin und Trotzki, denen er in den Wirren des Bürgerkrieges als Revolutionskommissar begegnete. Wir sprachen über Stalin, der ihn für mehr als dreißig Jahre in Straflager sperren ließ.
Seine Erlebnisse sind Teil der Erinnerung unserer Familie, die über drei Generationen hinweg mit deutscher und russischer Geschichte verflochten ist. Es sind vor allem die Erzählungen meines Vaters, Lorenz Lochthofen, die für uns Nachgeborene prägend waren. Von ihm handeln die folgenden Seiten ganz maßgeblich. Seine Geschichte beansprucht dabei keineswegs exemplarische Aussagekraft für die unzähligen Schicksale im Wüten der Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie ist vielmehr ein individuelles Exempel für die Launen, denen so viele Menschen zwischen Grauen und Davonkommen in einer heute unwirklich fern erscheinenden Zeit ausgesetzt waren.
Lorenz Lochthofen floh Anfang der dreißiger Jahre nach einem Zusammenstoß mit der SA aus dem Ruhrgebiet nach Moskau. Er wurde vom berüchtigten Vorläufer des KGB, dem NKWD, verhaftet und kehrte nach Jahren in den Lagern der russischen Arktis als einer der wenigen Überlebenden des Gulag in den sozialistischen Teil Deutschlands zurück. In der DDR des Kalten Krieges blieb er trotz einigen Erfolges als Wirtschaftsführer zeit seines Lebens ein «Ehemaliger». Beargwöhnt, weil er die Arbeitslager der «Eigenen» überlebt hatte. Verdächtigt bis nach dem Tod.
Den Zeiten misstrauend, in denen allein schon das «Sammeln von Nachrichten» Menschen hinter Gitter brachte, hielt ich meine Gespräche mit Vater und Großvater auf unscheinbaren Zetteln, auf Packpapier fest und verbarg die Texte in einem Stapel der Literaturzeitschrift «Nowy Mir». Darauf hoffend, dass sich kein Stasimitarbeiter die Mühe machen würde, die «Russenhefte» zu durchwühlen, halfen mir diese Notizen Jahrzehnte später, Ereignisse und Gespräche zu rekonstruieren und Lücken durch Recherchen zu schließen.
Dieses Buch, wiewohl den Fakten der Zeitläufte verpflichtet, lebt in jeder Zeile vor allem anderen vom Talent meines Vaters, packend zu erzählen. Ein Talent, das neben dem schieren Glück im großen Unglück einer Odyssee der Gefangenschaft mindestens so wichtig war wie die Fähigkeit, mit eigenen Händen für ein Überleben unter unmenschlichen Bedingungen zu sorgen. Diesem «Erzählen» folgt auch die hier gewählte narrative Form, die meinem Vater sicher am ehesten gerecht wird: Das Miterleben kleidet die Fakten und bestimmt den Grundton. Schritt für Schritt begleitet die Handlung Lorenz Lochthofen auf seinem Weg. Das Leben formt den Stoff zum Roman. Aus Geschichten wird Geschichte. Nur dort, wo es das Verständnis des Geschehens befördert, wechselt der Blick auf einen der Gefährten, ergänzt meine eigene Erinnerung die Überlieferung des Vaters. Das Heulen des Schneesturms um die Lagerzäune war Teil meiner Kindheit, ich kenne das Krachen des schmelzenden Eises unten am Fluss im kurzen arktischen Frühling. Beim Schreiben konnte ich mich neben der Kenntnis der Orte auch auf das Zeugnis handelnder Personen stützen, die mir seit meiner Kindheit vertraut sind. Freunde meines Vaters, die sich lange beharrlich weigerten, vom «Aufbau des
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