Äon - Roman
dich dringend. Wir alle brauchen dich.«
»Aber die Stimmen, die ich höre …«, sagte Raffaele so leise, dass Don Vincenzo Mühe hatte, die Worte zu verstehen. »Nicht alle kommen von Ihm.«
»Der Bischof ist da!«, rief Schwester Luisa aufgeregt. »Der Bischof ist da!«
Vincenzo saß in einer Nische der Kirche neben dem Beichtstuhl; er hatte über Raffaele und seine seltsame Furcht nachgedacht.
»Don Vincenzo!« Die beleibte Nonne schnaufte. »Es ist der Bischof!«
Er stand auf und verließ die Kirche. Es war erst kurz nach neun Uhr morgens, aber die Temperatur war selbst hier, gut sechshundert Meter über dem Meeresspiegel, auf angenehme gut zwanzig Grad gestiegen. Kleine weiße Häuser, von deren Wänden der Putz bröckelte, schmiegten sich aneinander, als wollten sie sich gegenseitig stützen. Schmale Gassen führten durch den Zweihundert-Seelen-Ort, der sich über mehrere Terrassen erstreckte, an einem westlichen Hang des Aspromonte, nicht weit von Calanna entfernt. Die meisten von ihnen waren mit alten Kopfsteinen gepflastert, einige andere mit Bruchstein ausgelegt. Wer mit dem Auto kam - wie der Bischof und in letzter Zeit die Pilger -, musste sein Fahrzeug weiter unten am Hang auf einem improvisierten Parkplatz zurücklassen und den Rest des Weges zu Fuß gehen. Zusammen mit Schwester Luisa schritt Don Vincenzo übers Kopfsteinpflaster, bis zu der Stelle, an der die kleinen Häuser ein wenig zurückwichen und ein kleiner Platz sich öffnete. Von dort aus
reichte der Blick bis nach Villa San Giovanni im Westen und über die Meerenge hinweg bis nach Messina und Sizilien. Blau schimmerte das Meer im Sonnenschein, und Vincenzo erinnerte sich daran, dass er als Kind dort unten geschwommen war, in kristallklarem Wasser und begleitet von bunten Fischen.
Der Wind trug ihnen Stimmen entgegen, und Vincenzo ging zur Treppe. Bischof Munari hatte auf seine Amtstracht verzichtet und trug einen überraschend einfachen Talar. Er war schlank und groß, und alles an ihm wirkte sehr gepflegt. Mit langsamen, würdevollen Schritten stieg er eine Stufe nach der anderen hoch, stützte sich dabei auf einen mit Christusschnitzereien verzierten Stab. Ein Schwarm aus Priestern, Sekretären und auch einigen Journalisten umgab ihn.
»Oh, Don Vincenzo!«, rief er, als sie nur noch wenige Treppenstufen voneinander trennten. »Freut mich, dich wiedersehen.«
Vincenzo ergriff die dargebotene Hand und verbeugte sich. »Die Freude ist ganz meinerseits, Exzellenz.«
»Wie ich sehe, kommen immer mehr Pilger.«
»Sie kommen voller Hoffnung«, sagte Vincenzo.
»Und sie werden nicht enttäuscht, oder? Unser Raffaele enttäuscht niemanden.«
Unser Raffaele, dachte Vincenzo. »Darf ich Sie zu unserem Gemeindehaus begleiten, Exzellenz? Dort gibt es Erfrischungen.«
Sie erreichten den kleinen Platz und gingen durch eine der kopfsteingepflasterten Gassen. In Schwarz gekleidete Alte, mehr Frauen als Männer, standen rechts und links und empfingen dankbar den Segen des Bischofs. Schwester Luisa eilte voraus zum Gemeindehaus, das im vergangenen Jahr mit
Spendengeldern am Rand von Drisiano errichtet worden war und in dem Vincenzo nicht nur sein Priesterbüro hatte, sondern auch eine kleine Wohnung.
Vor dem Eingang wartete Bürgermeister Enrico Corrado, genannt »Il Santo«, der Heilige, vielleicht deshalb, weil sein Gesicht etwas von Padre Pio hatte. Bei fast jeder Messe saß er in der ersten Reihe und sang am lautesten, aber Vincenzo wusste aus verschiedenen Quellen, dass er alles andere als ein Heiliger war. Er gehörte zur lokalen Cosca und stand mit einem anderen Don in Verbindung, der nicht zur Kirche gehörte.
Corrado begrüßte den Bischof so überschwänglich, als wäre er sein bester Freund, und führte ihn nach der vierten oder fünften Umarmung ins Gemeindehaus. Drinnen setzten sich die üblichen Begrüßungsrituale fort - bei Wein und Gebäck plauderte man betont entspannt und freundlich miteinander. Vincenzo hielt sich abseits der Gruppe, beobachtete das Geschehen und fragte sich, welche Neuigkeiten der Bischof brachte. Schließlich trat Munari zum Kopfende des langen Tisches und stellte sein Weinglas ab. Einer der Sekretäre läutete eine kleine Glocke und sagte laut: »Ruhe bitte.«
Die Journalisten, die ebenfalls hereingekommen waren, hielten Rekorder und Digitalkameras bereit.
»Meine Damen und Herren, liebe Freunde«, begann der Bischof würdevoll, »ich bringe gute Nachrichten. Der Vatikan erkennt das Wunder von
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