AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN
„Heilige Religion“ versündigt habe. Die venezianischen Machthaber sperrten den Lebemann in die sogenannte Bleikammer, einen Komplex von sieben Zellen im Ostflügel des Dogenpalastes, direkt unter dem mit Bleiplatten gedeckten Dach. Daher kommt der Name. Ein Gerichtsverfahren erachteten die Herren Venedigs nicht für nötig, Casanovas Eskapaden waren offensichtlich, der Rechtsstaat noch nicht erfunden. „Unterm Blei“ wurden vor allem besser gestellte Kriminelle und politische Gefangene untergebracht. Die Haftbedingungen waren nicht besonders streng (relativ für die Zeit), aber unter dem Dach wurde es im Sommer unerträglich heiß und „Millionen Flöhe“ (wie Casanova bitter klagte) machten ihm das Leben zur Hölle. Der entzog sich Casanova mithilfe eines abtrünnigen Geistlichen. Pater Balbi hatte mit einem Eisendorn ein Loch in seine Zimmerdecke gebohrt, war in die Zwischenkonstruktion zwischen Dach und Decke geklettert und hatte so auch für Casanova ein rettendes Schlupfloch in den Holzplafond gesägt. Am Allerheiligentag 1756 türmten die zwei Komplizen. Casanovas Sinn fürs Theatralische zeigte sich auch im Moment höchster Gefahr. Er hinterließ für die Nachwelt einen Zettel mit Psalm 118:17 aus der lateinischen Bibelübersetzung: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herren Werke verkünden.“
Die Flucht und die reichlich ausgeschmückte Erzählung darüber in seinen Memoiren hatten Casanova endgültig zur Legende gemacht. Der Ausbruch aus den Bleikammern könnte das Skript eines Mantel- und Degenfilms sein. Nachdem er sich mit Pater Balbi durch die Holzbalken der Decke gezwängt hatte, aus dem Dachfenster geklettert, über Dächer und schließlich – um sechs Uhr morgens stilecht mit einer Gondel über den Canale Grande – geflüchtet war, machte er sich auf den Weg nach Paris. Das ließ sich wohl nur mit Fluchthelfern bewerkstelligen. Schon Zeitgenossen hegten Zweifel an Casanovas Version. Sie nahmen an, der Venezianer habe auf übliche Art und Weise mithilfe seiner mächtigen Freunde die Gefängniswärter im Dogenpalast bestochen und sei so frei gekommen. Allerdings gibt es auch Indizien dafür, dass Casanovas Geschichte nicht ganz frei erfunden ist. In den venezianischen Archiven liegen Rechnungen über die Kosten der Reparatur eines durchgesägten Zellenbodens.
Mit „Die Geschichte meiner Flucht“ schrieb der Hochstapler 1787 einen Bestseller: „Gott schenkte mir alles, was ich für die Flucht brauchte, das war ganz erstaunlich, wenn nicht gar ein Wunder.“ Jedenfalls erreichte Casanova im Januar 1757 die französische Hauptstadt. In Paris hatte er viele Freunde aus besseren Zeiten und hervorragende Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten. Sein Kumpel François-Joachim de Pierre de Bernis war gerade Finanzminister geworden, und so fand er zunächst Unterschlupf in der Rue du Petit Lion bei einem italienischen Schauspielerpaar. Antonio-Giuseppe Balletti und seine Frau Zanetta waren als „Mario und Silvia“ in Theaterkreisen geschätzt und beliebt. Giacomo Girolamo Casanova Chevalier de Seingalt kannte die schöne Tochter des Hauses schon seit ihrem zehnten Lebensjahr. Jetzt, beim zweiten Zusammentreffen nach seinen abenteuerlichen Eskapaden in der Lagunenstadt Venedig, verliebte sich das junge Fräulein in den doch einigermaßen lebenserfahrenen 32-jährigen Schriftsteller, Abenteurer, Häftling, Pleitier, Betrüger, Aufschneider und Liebhaber.
Die bildhübsche Maria Maddalena – genannt Manon – Balletti war zwar erst im Teenager-Alter und doch längst an einen deutlich älteren Herrn vergeben, ihren ehemaligen Klavierlehrer. Charles Clément liebte die Schauspieler-Tochter mit jedem Akkord seines Wesens, doch die Zuneigung wurde nicht erwidert. Wer einen Casanova als Nebenbuhler hat, zieht meist den Kürzeren.
Aber schwer hatten es vor allem die Frauen, die in die Anziehungskraft des Venezianers gerieten – erst recht, wenn sie nicht auf ein kurzes amouröses Abenteuer aus waren, sondern den Filou wirklich liebten. Alles begann heimlich, in der Dunkelheit des Hauses tauschten sie Brieflein aus, zärtliche Botschaften, die sie sich nur wenige Meter entfernt bei Kerzenschein in ihren Zimmern schrieben. Da der galante, mit allen Wassern gewaschene Lebemann, dort das junge Mädchen, das mit einem wenig interessanten älteren Mann verheiratet werden sollte. Die von Casanova Angebetete erlag bald dem Werben des venezianischen Familienfreunds und erlebte ihr erstes
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