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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Hamburg. Reitze in der«Welt»schreibt zu meinem Geburtstag:
    Kempowski ist ein Mann ohne Jugend. Keine Erziehung. Keine Lektüre … Indem er Familiengeschichten erzählt, ohne sich auf den Richterstuhl zu begeben, hat er auch fremde Familienhistorie … beglaubigt …
    Ja, ich gebe es den Leuten schriftlich.
    Hübsches Bild von Hildegard und mir an der Zonengrenze in den«Kieler Nachrichten». Helmut Oertel in den«Kieler Nachrichten»:
    Seinen Frieden mit dem System hinter dem Stacheldraht hat er bis heute nicht gemacht.«Ach Gott», sagt er unten am Grenzbach, während vom Metallgitterzaun aus Grenzsoldaten der DDR die Szene fotografieren und ein Lastwagen in Stellung geht,«das ist doch ein völlig unnatürlicher Zustand, nicht? Ich denke immer: So muß es sein, wenn einem der linke Arm gelähmt ist.»
    Robert bezeichnet er als einen quicklebendigen kleinen Herrn mit blitzenden Augen überm mächtigen Schnauzbart.
    Stendhal mal wieder gelesen. Ärger, daß er über seine russischen Erlebnisse nichts schreibt.
    Über das eigene Land von einem Ausländer was gesagt zu bekommen, ist immer interessant.

Nartum
Mi 10. Mai 1989
    Bild: Scholz-Geliebte: Bubi bedrohte mich!
    ND: Erich Honecker empfing Präsident der UdSSR-Wissenschaftsakademie
     
    Ich brach mit meinem Bett zusammen, eine lächerliche Blamage, ich hatte mich gereckt, und da ging die Kopfwand ab. Es krachte ziemlich. Aber ich mußte noch weiteren Krach machen, damit Hildegard es hörte. Sie kam schließlich herbeigeeilt. Lachend aus tiefstem Schlaf. Ich küßte ihr die Hände aus Dankbarkeit, daß sie mir die Trümmer beseitigte.
    Schönes Maiwetter, aber es weht ein böser Wind, wie Hildegard sagt. Der Wind sei austrocknend. - Sommersprossen von A bis Z. Der Igel kreuzte meinen Weg beim Rundendrehen.
    Ich warf einen toten Vogel mit der Schaufel aufs Feld. Er war so leicht, daß der Wind ihn fortblies.
    Hildegard hat den hohen, bis ins Dach reichenden Kaktus abgebunden, was mir nicht recht war. Den Brunnen hat sie abgestellt, weil ihr das Tröpfeln unheimlich ist. Das war mir auch nicht recht. Wozu haben wir einen Brunnen, wenn er nicht tröpfeln darf?
    Büromaterial: Ordner, Folien, Register und zwei gute Papierscheren: 98 DM.
    Die Schwiegermutter ist wieder für ein paar Tage da. Sie geistert durchs Haus. Hildegard saß einen Moment bei mir im Studierzimmer, da kommt sie angeschlichen:«Ihr sprecht über mich?»
    Ich:«Nur Gutes.»- Da mußte sie lachen.
    Früher backte sie immer schöne Nußkränze. Ich bestellte mir einen, aber sie:«Hab’ keine Lust.»- Kann’s verstehen. Auch Klavier spielen tut sie nicht mehr. Vielleicht ganz gut. Wer sollte dazu singen?
    Verschiedene Versuche, die Fluchtberichte von 1945 thematisch zu ordnen, Abfahrt, Straße, Bahnhof, auf See usw. - alles sehr unbefriedigend. Die Themen überschneiden sich. Eine synchrone
Gesamtflucht läßt sich nicht herstellen. Ich bleibe erst einmal bei der chronikalen Anordnung.
    Zum Masurenbuch (M/B): Es kann nur so funktionieren, daß Jonathan das tut, was ich jetzt tue mit dem Masuren-Material. Er vergleicht Fotos mit Aussagen, spürt Augenzeugen auf und füllt sein Textgerät. Eventuell könnte der Text am Ende«zusammenfallen», verschwinden also, stattdessen das boshafte Computer-Gesicht, und dann läßt er das Buch sausen und fährt nach Bologna.
    Der Brief von Sabine Schulze! Sie hatte vor Jahren in Bonn den letzten Überlebenden interviewt, der mit meinem Vater zusammenwar, als die Bombe fiel. Er gab ihm die Schuld. Wo ist der Brief? - Hamburg, Isestraße: im Lehmweg, der Mann mit der Uhrensammlung, Informationsekel.
    Seine Freundin Ulla hat Geburtstag. Geht auf Flohmärkte, macht kleine Geschäftchen mit einer gelähmten Antiquitätenhändlerin. Post: Ihre Eltern seien waschechte Hamburger gewesen, schreibt eine Frau.
    Das Sowtschick-Projekt nimmt Konturen an.
    22 Uhr. - Eigenartiger Zustand der Überreizung, eine Mischung von Lampenfieber und Brett-vorm-Kopf.

Nartum
Do 11. Mai 1989
    Bild: «Sie ging immer fremd»/ Freundin im Garten einbetoniert
    ND: Neue Produktionsstätte hat Betrieb aufgenommen / Erste Delegierte kommen heute zum Pfingsttreffen nach Berlin
     
    Seit drei Tagen ist eine Amerikanerin bei uns. Ich nenne sie«the swallow». Sie hilft mir etwas im Archiv,«pro Tag zwei Stunden», wie sie kurz und bündig erklärte, gibt also englische Texte ein, was für mich immer etwas unbequem ist. Ich muß Wort für Wort tippen, sie macht’s sehr swingig. Heute kommt ihr

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