Alle meine Wünsche (German Edition)
Zug im Morgengrauen in Brüssel ankommt, wartet er, bis alle Reisenden ausgestiegen sind, ehe er den Waggon verlässt. Seine Augen sind rot, wie die der übernächtigten Männer, die sich auf der Suche nach Wärme in den windigen Bahnhofskneipen drängen; Männer, die Brötchen oder Gebäck in ihren teerschwarzen Kaffee tauchen. Es ist der erste Kaffee seines neuen Lebens, und er ist nicht gut.
Er hat Belgien gewählt, weil dort Französisch gesprochen wird. Das ist die einzige Sprache, die er kann. Und selbst da: Nicht alle Wörter, hatte er zu Jocelyne gesagt, als er ihr etwas hastig den Hof machte; sie hatte gelacht, hatte das folgende ausgesprochen: Symbiose , er hatte den Kopf geschüttelt, da hatte sie ihm erklärt, dass es das sei, was sie von der Liebe erwarte, und ihre Herzen hatten heftig geklopft.
Er läuft durch den Sprühregen, der seine Haut pikt. Seht nur, er verzieht das Gesicht, wird ganz hässlich. Er war schön, wenn Jocelyne ihn anschaute. Er sah aus wie Venantino Venantini. An manchen Tagen war er der schönste Mann der Welt. Er überquert den Boulevard du Midi, geht Waterloo, die Avenue Louise und die Rue de la Régence entlang bis zur Place des Sablons. Dort ist das Haus, das er gemietet hat. Er fragt sich, warum er so ein großes genommen hat. Vielleicht glaubt er an Vergebung. Vielleicht glaubt er, dass Jocelyne eines Tages zu ihm kommen wird; dass man eines Tages die Dinge versteht, die sich nicht erklären lassen. Dass wir eines Tages alle vereint sind, sogar die Engel und die toten kleinen Mädchen. Er denkt, dass er seit damals die Definition von Symbiose im Wörterbuch hätte nachschlagen müssen. Aber jetzt packt ihn erst mal die Begeisterung. Er ist ein reicher Mann. Sein Vergnügen entscheidet alles.
Er kauft sich ein sehr starkes und sehr teures rotes Auto, einen Audi A6 RS. Er kauft sich eine Patek Philippe Triple Complication mit Funktion für Datumsanzeige und eine Omega Speedmaster Moonwatch. Einen Flachbildschirm von Loewe und die Ultimate Edition der Jason-Bourne-Trilogie . Er holt seine Träume nach. Er kauft ein Dutzend Lacoste-Hemden. Berluttistiefel. Westons. Bikkembergs. Er lässt sich bei Dormeuil einen Anzug nach Maß machen. Einen zweiten bei Dior, der ihm nicht gefällt. Er wirft ihn weg. Er stellt eine Putzfrau ein, für das große Haus. Mittags isst er in den Cafés an der Grand-Place. El Gréco. Le Paon. Abends lässt er sich Pizza oder Sushi liefern. Er fängt wieder an, Bier zu trinken, richtiges Bier, das Bier der verlorenen Männer, des trüben Blicks. Er mag Bornem Tripel, liebt den Rausch von Kasteelbier, auf dem 11° steht. Sein Gesicht ist aufgeschwemmt. Er wird allmählich dicker. Er verbringt seine Nachmittage auf Caféterrassen und versucht Freunde zu finden. Gespräche sind selten. Die Leute sind allein mit ihren Telefonen. Sie werfen Tausende Worte in die Leere ihrer Leben. Im Fremdenverkehrsbüro der Rue Royale empfiehlt man ihm eine Bootsfahrt für Singles auf den Kanälen von Brügge; dort sind zwei Frauen auf einundzwanzig ausgehungerte Männer; es ist wie ein schlechter Film. Am Wochenende fährt er ans Meer. In Knokke-le-Zoute steigt er im Manoir du Dragon oder im Rose de Chopin ab. Er verleiht Geld, das er nie wiedersieht. Manchmal geht er abends aus. Er geht in Clubs. Verteilt ein paar triste Küsse. Versucht ein paar Frauen zu verführen. Sie lachen. Es läuft nicht gut. Er bezahlt viele Gläser Champagner, manchmal darf er eine Brust oder eine vertrocknete violette Möse berühren. Seine Nächte sind trostlos und kalt und ernüchtert. Er kommt allein nach Hause. Er trinkt allein. Er lacht allein. Sieht Filme allein. Manchmal denkt er an Arras, dann öffnet er ein neues Bier, um Abstand zu gewinnen, alles wieder unscharf werden zu lassen.
Manchmal sucht er sich im Internet ein Mädchen aus, wie ein Dessert auf einem Servierwagen im Restaurant. Das Mädchen liefert sich selbst in die Dunkelheit seines großen Hauses, sie verschlingt seine Scheine und lutscht ihn kaum, weil er keine Erektion hat. Seht ihn euch an, wenn sie die Tür zuknallt: Er lässt sich auf den kalten Fliesenboden gleiten, was für eine erbärmliche Tragödie, er kauert sich zusammen, ein alter Hund; er schluchzt, sabbert Angst und Rotze, und von den Schatten seiner Nacht streckt kein Wohlwollender die Arme aus, um ihn aufzufangen.
Jocelyn Guerbettes Flucht ist zehn Monate her, als ihn die Kälte packt.
Er duscht kochend heiß, aber die Kälte ist immer noch da. Seine
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