Alle müssen sterben - Thriller (German Edition)
können, als wären es echte.“ Er zögerte und nagte erneut an einem seiner Fingernägel. „Oder hast du eine bessere Idee?“
„Ich? Nein, natürlich nicht. Ich finde nur, dass sie einfach zu traurig ist. Ihr Blick ist so hoffnungslos, so deprimierend.“ Xenia schloss die Augen, versuchte sich zu erinnern. „Sie ahnt natürlich, dass es mit einer Karriere als Konzertpianistin nichts mehr wird“, seufzte Xenia und fuhr mit ihren Fingern durch ihre nassen Haare. „Was sagt eigentlich die EU-Kommission zu diesen Unfällen?“, fragte sie naiv und blickte an Zorn vorbei aus dem Fenster.
„Darum kümmert sich der EU-Abgeordnete Hendrik Glanz“, antwortete er kurz angebunden. „Es war ein bedauerlicher Arbeitsunfall, so wie Unfälle in Fabriken eben vorkommen. Das passiert auch hier bei uns manchmal, nicht nur in Moldawien.“
Aus dem großen Salon waren jetzt Geräusche zu hören, die sich wie das Krächzen der schwarzen Raben anhörten, die im Herbst den Park bevölkerten.
„Vater ist aufgewacht“, flüsterte Zorn und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Auch dafür hasste er sich. Nicht einmal jetzt konnte er die Angst vor seinem Vater abbauen. „Er darf dich hier nicht sehen, sonst schöpft er Verdacht. Du gehst besser durch die Küche in dein Zimmer und machst dich frisch. Dann kommst du über die Terrasse zurück in den Salon. Das ist unauffälliger!“
Xenia verdrehte die Augen, schien sich einen Augenblick lang zu weigern, entschied sich dann aber doch, Zorns Anweisung widerspruchslos zu folgen. Als sie weg war, blieb er noch einige Zeit in seinem Stuhl sitzen, widerstand aber dem Drang, das Video nochmals anzusehen. Er hielt zwar das Smartphone in der Hand, doch auf dem schwarzen Display sah er jetzt bloß sein Gesicht, das ihm geisterhaft bleich und abstrakt verzerrt entgegenstarrte.
Als das Krächzen aus dem Salon sich zu einem schrillen Kreischen gesteigert hatte, wurde Zorn unsanft in die Realität zurückgerissen. Mit schlurfenden Schritten und hängenden Schultern ging er den Korridor entlang, vorbei an den widerlichen Jagdtrophäen, die dicht an dicht an den Wänden hingen und die ihn mit ihren toten Glasaugen lauernd anstarrten und zu verfolgen schienen.
„Wenn der Alte endlich gestorben ist, dann verbrenne ich diese grässlichen Kadaver“, flüsterte er beinahe unhörbar und schob die großen, mit rustikalen Schnitzereien versehenen Türen zum Salon auf.
Wie immer brannte bereits das Feuer im Kamin und der alte Zoltan Zorn saß mit dem Rücken zu den Flammen. Aus seinem nach unten gezogenen Mund tropfte wie immer der gelblich weiße Speichel, vor dem es Edgar so sehr ekelte. Xenia hatte sich umgezogen, stand an dem großen Tisch und studierte einige Papiere. Als sie Zorn bemerkte, lächelte sie unverbindlich und deutete auf die Papiere.
„Die Rede für den heutigen Nachmittag bei der Industriellenvereinigung“, sagte sie geschäftsmäßig und Zorn vermied es, ihr in die Augen zu sehen.
„Sehr schön haben Sie das gemacht, Xenia!“ Er nickte kurz und schielte aus den Augenwinkeln zu seinem Vater, der ihn mit seinen gelblich verfärbten Raubvogelaugen wie eine Beute lauernd beobachtete.
„Warum haben Sie Vater herumgedreht, Xenia?“, fragte er. Denn erst jetzt fiel ihm auf, dass die Position seines Vaters eine andere als gewöhnlich war. Normalerweise starrte der Alte in das Feuer, das ihn beruhigte und weniger wütend machte.
„Ich hatte das Gefühl, dass Ihr Vater Sie heute sehen möchte“, antwortete Xenia ruhig. Zorn blickte sie überrascht an, doch Xenias Miene blieb unergründlich. Als hätte der alte Zoltan Zorn den Sinn ihrer Worte verstanden, begann er heftig mit seiner gesunden linken Hand auf die Armlehne seines Rollstuhls zu trommeln und schrille Schreie auszustoßen.
„Das ist nicht auszuhalten“, murmelte Zorn in den Lärm hinein und ging entschlossen auf seinen Vater zu. „So, jetzt drehen wir dich wieder zum Feuer, Vater. Dann kannst du dich etwas beruhigen.“
Doch als er vor seinem Vater stand, begann der Alte plötzlich heftig zu zittern und das schrille Gekreische wurde zu einem panischen Röcheln. „Xenia, wir brauchen sofort einen Arzt! Mein Vater stirbt!“, schrie Zorn und beugte sich zu dem verzerrten, von Falten durchfurchten Gesicht hinunter. Genau in diesem Augenblick sah er das bösartige Leuchten in den gelben Raubvogelaugen und noch ehe er ausweichen konnte, spuckte ihm sein Vater gelblich weißen Schleim mitten ins Gesicht.
Zorn
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