Alle Wege führen nach Rom
porzellanweißes Gebiß, das sie
bei jedem hellen Vokal präsentierte. Vor allen anderen Bewohnern des Abteils
zeichnete sie sich durch makelloses Hochdeutsch und akzentfreie Aussprache der
Fremdwörter aus, was ihr in Annabertas Augen den Nimbus von Allwissenheit
verlieh.
Neben der Schulrätin saß ihre Tochter, ein sicher
hochbegabtes und wohl nur diesen Morgen unsäglich dumm dreinschauendes Mädchen
von siebzehn Jahren. Sie hieß Sulamith. >Welch wunderlicher Name, sicher ein
unchristlicher, wildgermanischer Modename wie Karin oder Helga<, dachte sich
Annaberta und zog die abstrusen Namen ihrer Mitschwestern vor, Eustochium,
Glyceria oder Afrasia zum Beispiel; die haben doch wenigstens Patrone im
Himmel!
Sulamith zur Linken hatte ein älteres Ehepaar
Platz genommen. Sie schrieben sich von Neuhaus, waren Barone von Stand, doch
offensichtlich verarmt. Sie überragte ihn um einen halben Kopf. Was Wunder, daß
er zusammenzuckte, als sie ihn öffentlich tadelte: »Ferdinand, deine Krawatte
sitzt schief! So kannst du nicht vor den Heiligen Vater treten! « Nun, bis
dahin hatte es noch gute Weile. Noch flogen Zwiebeltürme und grasende Kühe an
den Fenstern vorüber, und keine Campanili oder beladene Esel. Noch leuchtete
der Himmel nicht pflaumenblau, vielmehr winkte er in den keuschesten Farben,
über die er verfügt, in Weiß und Blau, den Pilgern ein herzliches Lebewohl zu.
Machten die Raibeisens und die verarmten Adeligen
keinen üblen Eindruck auf Annaberta, so mißfiel ihr das Fräulein am anderen
Fenster auf den ersten Blick. Kastanienbraune Haare, purpurrote Lippen und dazu
eine spinatgrüne Sonnenbrille — wenn das noch schön sein soll! Am meisten
befremdete jedoch ihr Kleid. Annaberta kannte sich in der Mode nicht aus.
Vielleicht war es der letzte Schrei, ärmellos und grellgelb einherzuflattern.
Die Sittsamkeit hob es bestimmt nicht. »Weltkind, Weltkind«, bedauerte
Annaberta das Fräulein im Stillen und gelobte sich, während der Reise ein
Augenmerk auf sie zu werfen. Noch war das Fräulein ohne Gesellschaft. Der Platz
neben ihr war unbesetzt. Wer mochte da wohl noch zusteigen? Sicher ein junger
Herr. Auch die Schulrätin als Hüterin der Sittlichkeit schien sich mit diesem
Problem zu befassen. Es durfte ihr, einer pädagogisch durchtrainierten Mutter,
nicht gleichgültig sein, was für ein männliches Individuum zwei Tage mit ihrer
Tochter im selben Raum beisammen war.
Doch ehe sich das Rätsel in Rosenheim löste,
erschienen der Monsignore und Herr Adam Birnmoser, begrüßten jeden einzelnen
aufs herzlichste und erkundigten sich nach dem Befinden. Die Schulrätin stellte
durch die Hornbrille fest, daß sich Herr Birnmoser vor dem Zitronenfalter am
anderen Fenster tiefer als vor ihrer Tochter verneigte, und schwor sich, ihn
zur Strafe bei nächster Gelegenheit geflissentlich zu übersehen. Mit höchst
ungnädiger Miene nahm sie das weiße Kärtchen und den Briefumschlag in Empfang,
den ihr der weltliche Reiseleiter überreichte. »Was soll das?« fragte sie. Herr
Birnmoser begann zu erklären. Auf dem Kärtchen stehe aufgedruckt: »Ich fahre in
erster Linie nach Rom, um...« und jeder Pilger solle dann, was ihm das
Wichtigste an der Romfahrt sei, in einem infinitivischen Nebensatz zu Papier
bringen, den Umschlag sorgfältig verschließen und der Reiseleitung zurückgeben.
Niemand solle einen falschen Grund heucheln, jeder vielmehr von der Leber weg
seine Meinung äußern. Nur so könne man sich ein Bild über die wahren Absichten
und Interessen der Reisenden machen. Durch den verschlossenen Umschlag sei die
Anonymität gewährleistet; es brauche also niemand zu befürchten, ausgelacht
oder schief angesehen zu werden. Frau Schulrätin hielt dies für Unfug und
erklärte ein solches Übergreifen der Fragebogenmethode auf heiligste Dinge für
verhängnisvoll. Der Zitronenfalter am anderen Fenster sprach sich um so
nachdrücklicher dafür aus, die moderne Praxis der Meinungsforschung auch einmal
auf einen Pilgerzug auszudehnen, und erntete dafür von Herrn Birnmoser ein
dankbares (zu dankbares!) Lächeln. Monsignore Schwiefele bemerkte dazu, Herr
Birnmoser habe diese Praxis bereits auf einer Sonderfahrt zum Oktoberfest
ausprobiert und viel Beifall gefunden. Damit empfahlen sich die Herren von der
Reiseleitung und zogen sich ins nächste Abteil zurück. Unsere Pilger machten
sich nun mit Eifer daran, ihre wahre, innerste Absicht in einem infinitivischen
Nebensatz zu fixieren, wurden jedoch bei dieser
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