Der magische Reif
1.
ZIMMER 31
Du musst durchhalten, Papa«, flüsterte Sam. »Hörst du mich? Du darfst nicht aufgeben!«
Allan Faulkner lag ausgestreckt auf dem Krankenhausbett, regungslos, mit geschlossenen Augen, Mund und Nase unter einer Sauerstoffmaske, unter der er schwer atmete, sein Oberkörper mit einem Gewirr aus Elektroden und Sonden bestückt, die alle lebenswichtigen Funktionen steuerten und überwachten. Um ihn herum blinkte und piepte eine ganze Reihe von Apparaten, auf deren Bildschirmen in regelmäßigen Abständen irgendwelche Kurven und unverständliche Zahlen aufleuchteten. Sobald einer der Parameter in den roten Bereich abfiel, lösten sie ein durchdringendes Alarmgeräusch aus. Nachdem die Krankenschwestern ihm die Haare geschnitten und seinen Bart rasiert hatten, war ein erschreckend abgemagertes Gesicht zum Vorschein gekommen, ebenso skelettartig wie Oberkörper, Schultern, Arme . . . Die sechs Monate Gefangenschaft in den Verliesen von Vlad Tepes – auch unter dem Namen Dracula bekannt – hatten ihn zu einem Schatten seiner selbst reduziert, den nur noch ein hauchdünner Faden mit dem Leben verband.
Samuel nahm die Hand seines Vaters. Die grünliche Neonbeleuchtung hinter dem Kopfende seines Bettes hüllte sie in einen geisterhaften Schimmer, zudem raubte einem der betäubende Geruch von Desinfektionsmitteln beinahe die Sinne.
»Die Arzte meinen, es hat keinen Sinn, mit dir zu reden, aber das glaube ich nicht, im Gegenteil. Du verstehst mich doch, nicht wahr? Du erkennst doch meine Stimme?«
Keine Reaktion.
In Wirklichkeit waren es jetzt schon drei Tage, in denen Allan das Bewusstsein nicht wiedererlangt hatte. Drei Tage war es her, dass ihm und Samuel die Flucht von Schloss Bran gelungen war und sie, verfolgt von einer Meute Soldaten und Hunde, mit knapper Not den Sonnenstein erreicht hatten. Als sie gerade im Begriff waren, den großen Zeitsprung zu wagen, der sie aus dem Mittelalter zurück in die Gegenwart bringen sollte, hatte Allan seinem Sohn eröffnet, dass er womöglich zu geschwächt wäre, um die Rückreise zu überleben. Seine Kräfte drohten bereits ihn zu verlassen, mehr und mehr schwanden ihm die Sinne und es bestand die Gefahr, dass er die verzehrende Hitze, die den Zeitreisenden bei diesen Sprüngen jedes Mal erfasste, nicht überleben würde. Bereits mühsam nach Atem ringend hatte er dennoch darauf bestanden, Sam zu erklären, was ihn in die Höhle Draculas geführt hatte: der Goldreif, ein sehr alter Armreif, von dem auf der ganzen Welt nur zwei Exemplare existierten – davon eines im Besitz von Vlad Tepes – und der es einem erlaubte, in Verbindung mit sieben gelöcherten Münzen und dem Sonnenstein, sich nach Belieben von einem Zeitalter ins nächste zu begeben. Und das war noch nicht alles. Wie Allan herausgefunden hatte, war alles so eingefädelt worden, dass Samuel zu ihm gelangen und sich an seiner Stelle den Goldreif holen konnte, falls er durch einen unglücklichen Zufall scheiterte: eine verschlüsselte Nachricht in der Buchhandlung Faulkner, eine geprägte Münze mit dem Bild einer schwarzen Schlange, dazu ein paar scheinbar willkürlich verstreute Hinweise, hatten ihm schließlich Zugang zu Schloss Bran verschafft. Später war Allan dann unglückseligerweise Vlad Tepes in die Hände gefallen und schließlich war es Samuel nach einer langen Irrfahrt bis in die Walachei endlich gelungen, ihn zu retten und das sagenumwobene Schmuckstück den Klauen des Woiwoden zu entreißen ...
Doch warum nur war er so versessen auf diesen Goldreif?, hatte Samuel gefragt. Warum hatte er sein eigenes Leben und das seines Sohnes aufs Spiel gesetzt, indem er Dracula bis in den letzten Winkel seines Unterschlupfs verfolgte? »Ich bin sicher, dass man mithilfe dieses Armreifs deine Mutter retten kann«, war Allans Antwort gewesen. »Verstehst du, Sam? Mit diesem Armreif kannst du deine Mutter retten!« Das waren seine letzten verständlichen Worte gewesen, den Bruchteil einer Sekunde später waren sie beide brutal in den Zeitstrudel hineingerissen worden . . .
Samuel strich über die Hand seines Vaters: Sie war eiskalt.
»Ich weiß nicht, wann die Krankenschwester zurückkommt«, sprach er weiter, »aber ich bin froh, dass ich ein bisschen allein mit dir sein kann, Papa. Ich wollte dir nämlich sagen, dass ich dir nicht böse bin. Ich habe lange über das nachgedacht, was du mir erzählt hast . . . Was du mit dem Goldreif vorhattest und warum du nie mit mir darüber
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