Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
einen Moment später lösen sich Dorje 3 und Pemba genauso ins Nichts auf wie schon Bart und Dorje 1 vorher. Nachts um vier startet nochmal ein Höllenlärm im Nachbarzimmer. China will sich partout nicht leise von mir verabschieden. Ich stehe auf und sehe durch die offene Flurtüre einen Tibeter mit einer jungen Frau. Wütend knalle ich die Tür. Wieder im Bett höre ich zehn Minuten später durch die dünne Wand einen spitzen Schrei. Seltsam: Nie hört man Chinesen und auch Tibeter vorher stöhnen.
Maos Schnauzbart
Unser tapferer Held hat es allen Unkenrufen zum Trotz geschafft. Dabei war er die Unke meist selber. Trotzdem bitte erst aufhören zu lesen, wenn das Buch zu Ende ist. Es passiert nämlich noch was.
Am nächsten Morgen schäume ich fast über vor Energie. Das muss an den Unmengen von Sauerstoff liegen, die nach dem rapiden Abstieg gestern in meinem Blut zirkulieren. Aber auch wenn ich mich so gut fühle wie schon lange nicht mehr, habe ich dennoch Angst. Irgendeine Katastrophe muss schließlich heute passieren: Ein Baum fällt auf die Straße, es gibt einen Erdrutsch, ein Erdbeben oder eine Invasion mir feindlich gesinnter Außerirdischer. Es kann ja nicht sein, dass ich so mir nichts, dir nichts aus diesem Land herauskomme. Kann es offenbar doch. Es regnet zwar Bindfäden, als wir an der Grenze stehen, doch mehr geschieht nicht. Wir müssen ein paar Formulare ausfüllen, dann haut mir ein Beamter einen Stempel in den Pass, und urplötzlich ist es vorbei mit China.
Das ging so unfassbar schnell, dass ich es kaum glauben mag. Und es stimmt ja auch gar nicht. Hinter dem Abfertigungsgebäude geht China nämlich einfach weiter. Offenbar so eine Art Bonus-China oder ein Hidden Track von acht Kilometern auf der 318. Wir holpern dieses Stück standesgemäß in einem Brottaxi hinunter, dessen Sichuaner Fahrer sicher schon seit zehn Jahren auf neue Stoßdämpfer spart. Gleich bricht die Achse, denke ich, und wir müssen drei Tage lang im Niemandsland auf Ersatzteile warten. Doch da blitzt eine lange Brücke durch die großen Farne am Straßenrand. Das muss die Freundschaftsbrücke sein, die nun wirklich absolut ultimative Grenze zwischen China und Nepal.
Die Brücke führt über eine tiefe Schlucht, durch die ein weiß schäumender Gebirgsfluss tobt. Davor stauen sich buntbemalte indische Tata-Laster, ein paar Busse und Jeeps. Dunkelhäutige Männer mit den typisch nepalesischen Schiffchen auf dem Kopf und Frauen in Saris kaufen Spielzeug, Tee und Stoffe ein in den letzten chinesischen Läden. Hier schmeißt uns auch der Brottaxifahrer raus, und wir müssen zu Fuß weiter. Jean heuert zwei nepalesische Kinder an, die ihm sein schweres Malergepäck tragen. Dafür wird er von uns ein letztes Mal auf chinesischem Boden verspottet: «Französischer Staranwalt lässt kleine Kinder für sich arbeiten. Wenn das zu Hause publik wird, Jean, kannst du für immer in Nepal bleiben.»
Die Kinder haben allerdings nicht weit zu schleppen. Nach den letzten hundert Metern auf der Straße marschieren wir durch einen weiß verklinkerten Torbogen, über dem die rote Fahne Chinas weht. Ein Soldat wirft noch einen kurzen Blick auf unsere Pässe, und dann sind wir auf der Brücke. Genau in der Mitte verläuft ein dicker gelber Strich. Sebastian überquert ihn als Erster, und obwohl ihm die chinesischen Soldaten bedeuten, nicht anzuhalten, hüpft er ein paar Mal hin und her. «China – Nepal. Nepal – China. China – Nepal», ruft er dabei und springt so lange, bis uns vom anderen Brückenende Soldaten in fremdartigen hellblauen Camouflage-Uniformen entgegenkommen. Das müssen Nepalesen sein. Jetzt gibt es wirklich keinen Zweifel mehr: Wir sind jenseits der Grenze. Nach genau neunzig Tagen und angeblich exakt 5386 Kilometern auf der Nationalstraße 318 ist meine Reise zu Ende. Unfassbar, denke ich, dass es tatsächlich noch andere Länder gibt auf dieser Erde.
Als Erstes müssen wir die Uhren zurückstellen, denn in Nepal ist es zweieinhalb Stunden früher. Doch eigentlich liegt das Land im Vergleich zu China mindestens dreißig Jahre zurück. Das wird schon bei der Grenzabfertigung im Grenzdorf Kodari deutlich. Statt wie die Chinesen einfach ein am Computer erstelltes Visum in den Pass zu kleben, sind in einer Steinbaracke drei Männer mit der Visaerteilung beschäftigt. Der erste klebt das Visum ein, der zweite verziert es mit vier Stempeln und einer handgeschriebenen Nummer, und der dritte, durch seinen prächtigen, grauen
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