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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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üblich sind. Er begann wieder zu lesen, und kurz darauf zündete er die Zigarre an; dass ich«entschuldige»gesagt hatte, legte er nämlich so aus, wie es ihm am gelegensten kam. Er schien sogar befriedigt zu sein, dass er mich aufgeweckt hatte, vielleicht langweilte er sich. Ich hatte meine Uhr auf den Stuhl gelegt, und er schaute sie an, allerdings bestimmt nicht in der Hoffnung, auf diese Entfernung die Zeit ablesen zu können. Er starrte sie an, dann starrte er von neuem auf die Zigarre oder aufs Buch.
    Ich nahm die Uhr (das Band war am Rand mit Blut befleckt) und drehte mich auf die andere Seite. Ich musste mich auf die Rückkehr ins Lager vorbereiten oder aber weiterfahren, bis ich den
nächsten Zahnarzt fand. Aber wo? Und die Verspätung? Als der Leutnant das Buch unter das Kissen schob und wegging, rief ich ihn und fragte, ob er eine Tablette gegen Zahnschmerzen habe. Er hatte keine, aber wenn ich mit ihm käme, würde er mir zeigen, wo ich welche bekommen könnte: Er redete höflich, und der unangenehme Eindruck des ersten Augenblicks verflog. Wir verließen das Etappenkommando und machten uns auf den Weg zu einem Eukalyptuswäldchen. Dort, vor der Tür einer Holzbaracke, in einen Liegestuhl versunken, fanden wir einen Stabsarzt, der mich unwillig anhörte und dann aufstand, um ein Röhrchen Tabletten aus seiner Baracke zu holen. Ich überlegte mir, dass ich die Gelegenheit nutzen könnte, um einen neuen Verband um die verletzte Hand zu wickeln. Der Arzt rief nach dem Burschen. Dann nahm er keine Notiz mehr von uns und setzte sich wieder hin.
    Er war etwa um die vierzig. Unbekümmert um die Unordnung, die ihn umgab, las er in alten Zeitungen. Am Boden lagen zwei kleine Kaffeemaschinen, zusammengerollte Zeitungen, Bücher, schmutzige Stiefel sowie verschiedene Teile eines auseinandergenommenen Motorrades; der Bursche pfiff leise vor sich hin und kümmerte sich um nichts. Der Arzt schien in seine Lektüre vertieft zu sein, und daher verließen wir ihn. Aber
wie sollte man den Nachmittag verbringen, jetzt, da die Zahnschmerzen sich beruhigten? Allerdings blieb mir eine dumpfe Erinnerung daran im Kiefer zurück.
    Jemand rief mich. Es war ein Major. Als ich zu ihm ging, sagte er, ich täte gut daran, mich zu rasieren. Er hob gerade nur einen Finger an seine glänzenden Wangen und wiederholte den Satz in barschem Ton. Er sah mich an, hielt den Kopf hoch erhoben, und da auch ich ihn immerfort anstarrte, fügte er hinzu, ich könne gehen. Ich grüßte, und darauf sagte er in einem milderen Ton:«Ist gut»und entfernte sich. Er war ein hochgewachsener und beleibter Mann, der mit großer Sorgfalt gekleidet war; beim Gehen hielt er die Hände auf dem Rücken. In diesem Augenblick konnte ich nicht ahnen, dass ich ihn bei einer ganz anderen Gelegenheit wiedersehen sollte. Auch den Doktor sollte ich wiedersehen. Nein, ich konnte es nicht wissen und ging mit dem Leutnant weiter auf den Platz zu.
    Es war kein richtig abgegrenzter Platz. Ich sah ihn zum ersten Mal und hatte doch das ergreifende Gefühl, wie man es an einem Ort empfindet, den man sich vorgestellt hat und der einen nicht enttäuscht, wenn man dort hinkommt, weil die Wirklichkeit die Vorstellung noch übertrifft und man sogar gewahr wird, dass man in der Vorstellung
nicht an die Wirkungen des Lichts und der Klänge gedacht hat, an das Weicherwerden der Luft in der Dämmerung, wenn die Bäume sich wie Schirme schließen und die Häuser dieselbe Traurigkeit atmen, die unsere Schritte langsamer werden lässt. Auch dort standen hohe Eukalyptusbäume, und man schritt geräuschlos auf den herabgefallenen Blättern durch die Straßen ohne Pflaster und ohne Gehsteige. Zwischen den Häusern ragte der Granithügel hervor, und unterhalb davon flackerte die Petroleumlampe einer Wirtschaft. Die Eingeborenen saßen an langen Tischen und wurden von einer dicken, in Rosa gekleideten Äthiopierin bedient: Sie war der einzige rosa Fleck in all dem Grau. Aus den Straßen drangen die Geräusche der Handwerker herüber, Frauen gingen mit leeren Blechkanistern auf ihrem Weg zum Ziehbrunnen vorbei, und unter einem riesigen Baum saßen zwei Männer, ohne zu sprechen, in Erwartung irgendeines biblischen Wanderers. Ebenso wie die Menschen besitzen auch die Orte eine ihnen eigene Glückseligkeit; und jener Platz, so vergessen und gestaltlos er war, drückte den Frieden der Zeiten aus, die nicht wiederkehren. Gleichsam als errieten sie meinen Gedanken, erhoben sich die beiden Männer,

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