Alles, was ist: Roman (German Edition)
und Eichen des Campus. Später am Tage dann setzten die tiefen Glocken ein, feierlich und erhaben, sie läuteten und läuteten fast ohne Grund, und dann verklangen sie in ruhigen, endlosen Schlägen sanft wie ein Streicheln.
Zu Anfang wollte er noch Biologie studieren, aber im zweiten Semester begegnete er dem großen elisabethanischen Zeitalter – wie aus dem Nichts tauchte es auf, London, Shakespeares Heimatstadt, damals noch grün mit Bäumen, das legendäre Globe Theatre, die Redegewandtheit der Menschen von Rang, ihre üppige Sprache, die prachtvollen Gewänder, die Themse und die lasterhafte South Bank, Land, das dem Bischof von Wichester gehörte, und die jungen Frauen, die sich dort feilboten und als Wichestergänse bekannt waren, das Ende eines turbulenten Jahrhunderts und der Beginn des nächsten – all das flutete über ihn herein.
Im Seminar über das Jakobinische Theater erklärte der weithin berühmte Professor, eigentlich ein Schauspieler, der seinen Auftritt über die Jahrzehnte perfektioniert hatte, mit gestenreicher, kraftvoller Stimme: »Kyd war der El Greco der englischen Bühne.«
Bowman erinnerte sich an jedes Wort.
»Vor dem Hintergrund bewölkter Landschaften und zuckender Blitze gewahren wir seiner merkwürdig kantigen Figuren in Gewändern von unerwarteter Pracht, getrieben von den Stürmen dunkler Leidenschaften.«
Zuckende Blitze, Gewänder von unerwarteter Pracht. Aristokraten, die Schriftsteller waren: der Earl von Oxford, die Herzogin von Pembroke – die Höflinge Raleigh und Sidney. Die vielen Bühnenautoren, von denen es keine Bildnisse gab, Kyd, der wegen seiner aufrührerischen Überzeugungen verhaftet und gefoltert wurde, Webster, Dekker, der unvergleichliche Ben Jonson. Marlowe, der erst dreiundzwanzig war, als sein Tamburlaine uraufgeführt wurde, und der unbekannte Schauspieler, dessen Vater Handschuhmacher war und dessen Mutter weder schreiben noch lesen konnte. Und dann Shakespeare selbst. Es war ein Zeitalter der Wortgewalt und übermächtigen Prosa. Königin Elizabeth I. sprach Latein, liebte Musik und spielte die Leier. Eine große Monarchin, eine große Stadt.
Bowman war ebenfalls in einer großen Stadt geboren worden, im französischen Krankenhaus in Manhattan, in der sengenden Augusthitze, früh am Morgen, wenn alle Genies geboren werden, wie Pearson ihm einmal sagte. Es herrschte eine atemlose Stille, dann, kurz vor Morgengrauen in der Ferne ein schwaches Grollen. Langsam wurde es lauter, vereinzelte Windstöße kühler Luft, bevor ein gewaltiger Sturm mit Blitzen und schwerem Regen auf sie niederging, und als es vorüber war, erhob sich eine riesige Sommersonne über der Stadt. Am Fuß des Bettes hielt sich ein einbeiniger Grashüpfer, der sich ins Zimmer gerettet hatte, an der Bettdecke fest. Die Schwester wollte danach greifen, aber seine Mutter, noch benommen von der Geburt, sagte nein, es wäre ein Zeichen. Es war das Jahr 1925.
Sein Vater verließ sie zwei Jahre später. Er war Rechtsanwalt bei Vernon, Wells und von der Firma zu einem Klienten nach Baltimore geschickt worden, wo er eine Frau kennenlernte, eine Dame der Gesellschaft namens Alicia Scott, in die er sich verliebte und für die er seine Frau und seinen jungen Sohn verließ. Später dann heirateten beide und bekamen eine Tochter. Er heiratete noch zweimal, jedes Mal eine reichere Frau, die er in Country Clubs kennenlernte. Sie waren Bowmans Stiefmütter, obwohl er keine von ihnen je traf, auch nicht seine Halbschwester.
Er sah seinen Vater nie wieder. Aber er hatte das Glück, einen liebenden Onkel zu haben, Frank, der verständnisvoll war, viel Humor hatte, gerne Lieder komponierte und Nacktmagazine las. Das Fiori lief ganz gut, und Bowman und seine Mutter aßen dort oft zu Abend oder spielten Kasino mit seinem Onkel, der ein guter Spieler war und Kartentricks kannte und hintereinander vier Damen und vier Könige ziehen konnte.
Die ganzen Jahre tat Beatrice Bowman so, als wäre ihr Mann nur verreist, als würde er vielleicht zurückkommen, selbst nach der Scheidung und seiner Heirat mit der Frau aus Baltimore, die sie nie richtig ernst nahm, auch wenn sie wissen wollte, wie die Frau aussah, die ihr den Mann weggenommen hatte, und irgendwann sah sie ein Foto von ihr in einer Baltimorer Zeitung. An den beiden folgenden Frauen hatte sie dann weniger Interesse, das Ganze schien ihr nur noch bemitleidenswert. Ihr schien es, als würde er immer weiter absinken, sich immer weiter entfernen, und
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