Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
diese hatte bekanntlich für Reformer nichts übrig. Sie setzte sie für gewöhnlich ab und unterdrückte sämtliche Tendenzen, die Veränderungen hätten mit sich bringen können. Die Tragik bestand jedoch darin, dass wir uns mit dem »Staat KPDSU « – dem Erbe einer vergangenen und überholten historischen Epoche – nicht vorwärtsbewegen, nicht entwickeln konnten; ihn sofort abzulehnen hätte jedoch bedeutet, das Land einer großen Gefahr auszusetzen, weil die Nomenklatur damals noch auf allen Regierungsebenen das Sagen hatte.
Ein Ausweg aus diesem grundlegenden Widerspruch wäre eine von der Parteiführung angestoßene Reform der KPDSU gewesen. Erst auf der Plenartagung im Juli 1991 wurde ein außerordentlicher Parteitag anberaumt, um die KPDSU zu reformieren. Im November sollte das neue Programm einer sozialdemokratischen Partei zur Diskussion stehen. Doch der Augustputsch und die Vereinbarung von Belowesch vereitelten diesen Plan ebenso wie den des neuen Unionsvertrags. Die starke konservative Strömung im Politbüro und in den oberen Etagen der Partei generell führte dazu, dass wir nicht selten dringende Lösungen zu spät in Angriff nahmen.
Und ein Letztes. Das historische Verdienst der Reformer der Perestrojka-Zeit liegt darin, dass sie längst fällige radikale Reformen vornahmen, und zwar auf demokratischem Weg. Sie bewegten sich Schritt für Schritt im Rahmen der damaligen Möglichkeiten vorwärts und erweiterten sukzessiv die Grenzen der Freiheit, das Ausmaß und die Tiefe der Veränderungen. Im Verlauf der Perestrojka gelang es, die Gesellschaft qualitativ zu verändern, ihr eine demokratische Dimension zu geben. Das Eingeständnis der einen oder anderen Fehler hebt die grundlegenden Verdienste der Perestrojka nicht auf.
Die Perestrojka war als Alternative zu den beiden historischen Extremen konzipiert: dem egoistischen, auf Privatbesitz schwörenden Kapitalismus auf der einen Seite und dem stalinistischen Totalitarismus auf der anderen. Zugleich war sie eine ebenso spontane wie zielstrebige Bewegung, um die positiven Aspekte des Sozialismus und Kapitalismus miteinander zu verschmelzen. Für sich genommen war die Perestrojka eine historische Leistung: Immerhin befreite sich die sowjetische Gesellschaft aus eigener Kraft vom totalitären System und bereitete auch anderen Ländern und Völkern den Weg hin zu Freiheit und Demokratie.
Bei allen unterschiedlichen Bewertungen der Perestrojka genießen unsere Landsleute noch heute, wenn auch unbewusst, deren Errungenschaften, in erster Linie auf dem Feld der bürgerlichen und politischen Rechte und Freiheiten. Über 70 Prozent der Russen vertreten mehr oder weniger dezidiert grundlegende demokratische Werte, die auf die Perestrojka zurückgehen. Die außenpolitischen Verbesserungen aus jener Ära können ebenfalls nicht hoch genug veranschlagt werden. Der Unterschied zwischen der Zeit vor und nach der Perestrojka zeigt sich am deutlichsten auf internationaler Ebene.
Die Menschheit ist mit der Bürde ungelöster Probleme der Vergangenheit in das 21 . Jahrhundert eingetreten und dabei mit neuen, globalen Herausforderungen konfrontiert. Um sie zu bewältigen, brauchen wir eine wahrhaft demokratische Weltordnung. Die durch die Perestrojka geschaffenen Voraussetzungen und eröffneten Perspektiven sind nicht nur »Zukunftsmusik«, sondern ein dauerhafter Faktor. Sie verhindern ein Abgleiten der Welt in eine neue Konfrontation und rufen das Beispiel einer realen Zusammenarbeit zur Lösung schwierigster internationaler Probleme in Erinnerung.
Epilog
Das Schicksal hat es so gefügt, dass mir eine Aufgabe zugefallen ist, die einem Einzelnen äußerst selten zufällt. Doch man kann das Schicksal freigebig nennen, dass es mir diese seltene Chance gewährte. Auch wenn ich alle Schwierigkeiten hätte voraussehen können, hätte ich mich nicht von meinem Grundsatz abbringen lassen: dem Versuch, sollte ich an die Spitze der Macht kommen, das Land, das ich vorfinde, zu verändern. Ich finde diesen Grundsatz auch heute richtig. Ich stehe auf dem Standpunkt, den ich verteidigt habe und verteidigen werde: Es gibt in der Geschichte immer verschiedene Möglichkeiten, es gibt Alternativen. Eigentlich besteht die Geschichte der Menschen und der Gesellschaft nur aus Entscheidungen, die getroffen werden.
Die sozialpolitischen Werte, an die ich geglaubt habe und weiterhin glaube, sind: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Diese Werte hielten viele
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