Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Lambeck fertig war.
Dann sagte sie: »Er hat die Grippe.«
Diese Bemerkung rief wieder ein großes Wehklagen hervor. Man hätte glauben können, Fräulein Lambecks liebsten Angehörigen lägen im Sterben. Sie schüttelte den Kopf, bis die Ohrringe klirrten. Sie schlug Heilmittel vor. Sie empfahl Ärzte. Sie hörte nicht auf zu reden, bis Anna ihr versprochen hatte, ihrem Vater Fräulein Lambecks beste Wünsche für eine schnelle Besserung zu überbringen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Sag nicht, gute Wünsche von Fräulein Lambeck, kleine Anna - sag nur: von einer Verehrerin!« Dann fegte sie endgültig nach draußen.
Anna kaufte eilig ihre Stifte. Dann standen sie und Elsbeth draußen im kalten Wind vor dem Schreibwarenladen. Hier trennten sich für gewöhnlich ihre Wege, aber Elsbeth zögerte. Sie hatte Anna schon lange etwas fragen wollen, und dies schien ein geeigneter Augenblick.
»Anna«, sagte Elsbeth, »ist es schön, einen berühmten Vater zu haben?«
»Nicht, wenn man jemandem wie Fräulein Lambeck begegnet«, sagte Anna und machte sich nachdenklich auf den Heimweg, während ihr Elsbeth ebenso nachdenklich folgte.
»Nein, aber abgesehen von Fräulein Lambeck?«
»Es ist eigentlich ganz nett. Zum Beispiel, weil Papa zu Hause arbeitet, und wir ihn oft sehen. Und manchmal kriegen wir Freikarten fürs Theater. Und einmal wurden wir von einer Zeitung interviewt, und sie fragten uns, was für Bücher wir gern lesen, mein Bruder sagte, Karl May, und am nächsten Tag schickte ihm jemand eine Gesamtausgabe als Geschenk.
»Ich wünschte, mein Vater wäre auch berühmt«, sagte Elsbeth. »Aber das wird er sicher nie, denn er arbeitet bei der Post, und dafür wird man nicht berühmt.«
»Wenn dein Vater nicht berühmt wird, dann wirst du es vielleicht einmal. Wenn man einen berühmten Vater hat, dann wird man fast nie selber berühmt.«
»Warum nicht?«
»Das weiß ich nicht. Aber man hört fast nie von zwei berühmten Leuten aus einer Familie. Das macht mich manchmal ein bißchen traurig.« Anna seufzte.
Sie standen jetzt vor Annas weißgestrichenem Gartentor. Elsbeth dachte fieberhaft darüber nach, wofür sie vielleicht berühmt werden könnte, als Heimpi, die sie vom Fenster aus gesehen hatte, die Haustür öffnete.
»Du meine Güte«, rief Elsbeth, »ich komme zu spät zum Essen!« - und schon rannte sie die Straße hinunter.
»Du und diese Elsbeth«, schimpfte Heimpi, während Anna ins Haus trat. »Ihr holt mit eurem Geschwätz noch die Affen von den Bäumen!«
Heimpis richtiger Name war Fräulein Heimpel, und sie hatte für Anna und ihren Bruder Max gesorgt, seit diese kleine Kinder waren. Jetzt, da sie größer geworden waren, versorgte sie, wenn die Kinder in der Schule waren, den Haushalt, aber wenn sie nach Hause kamen, mußte sie sie immer noch bemuttern.
»Wir wollen dich mal auspacken«, sagte sie und nahm ihr den Schal ab. »Du siehst aus wie ein Paket, an dem die Kordel sich gelöst hat.«
Während Heimpi Anna aus den Kleidern schälte, hörte diese, daß im Wohnzimmer Klavier gespielt wurde. Mama war also zu Hause.
»Sind deine Füße auch bestimmt nicht feucht?« fragte Heimpi. »Dann geh schnell und wasch dir die Hände. Das Mittagessen ist gleich fertig.«
Anna stieg die mit einem dicken Läufer belegte Treppe hinauf.
Die Sonne schien zum Fenster herein, und draußen im Garten konnte sie ein paar letzte Schneeflecken sehen. Von der Küche her stieg der Duft eines gebratenen Huhns herauf. Es war schön, aus der Schule nach Hause zu kommen.
Als sie die Badezimmertür öffnete, hörte sie drinnen eiliges Füßescharren, und gleich darauf fand sie sich ihrem Bruder Max gegenüber, der mit puterrotem Gesicht die Hände auf dem Rücken hielt.
»Was ist los?« fragte sie, noch bevor sie seinen Freund Günther entdeckt hatte, der ebenso verlegen schien.
»Oh, du bist es!« sagte Max, und Günther lachte, »wir dachten, es wäre ein Erwachsener.«
»Was habt ihr da?« fragte Anna.
»Das ist ein Abzeichen. In der Schule gab es heute eine Rauferei. Nazis gegen Sozis.«
»Was sind Nazis und Sozis?«
»Ich hätte doch gedacht, daß du in deinem Alter das wüßtest«, sagte Max, der gerade zwölf war. »Die Nazis sind die Leute, die bei den Wahlen für Hitler stimmen werden. Wir Sozis sind die Leute, die gegen ihn stimmen werden.«
»Aber ihr beiden dürft doch noch gar nicht wählen«, sagte Anna. »Ihr seid noch viel zu jung.«
»Aber unsere Väter«, sagte
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