Altstadtfest
Titelseite; dafür rutschte ein zeitgleich im Irak erfolgter Selbstmordanschlag mit 37 Toten in die Rubrik Vermischtes.
Und der Mörder? Von ihm fehlte jede Spur; er blieb unauffindbar, ein Phantom.
Der Heidelberger Herbst, das große Altstadtfest, wurde für beendet erklärt. Bis zum Sonntagabend hätte es noch dauern sollen. Nun strichen Verfassungsschützer durch die Gassen, Politiker aller Couleur legten Kränze am Tatort nieder, sogar der Bundespräsident ließ sich blicken. Es ging ja weniger um die Zahl der Opfer; vier Tote forderte die nahe A 5 fast jeden Monat. Es ging darum, dass sich niemand einen derartigen terroristischen Anschlag hatte vorstellen können, und wenn doch, dann in Berlin, in Ramstein oder am Frankfurter Flughafen. Vielleicht noch in Mannheim. Aber nicht in Heidelberg, nicht an einem milden Herbstabend, im Herzen der Kurpfalz, auf heiligem deutschem Boden, wo einst Luther und Goethe, Eichendorff und Schumann und wie sie alle hießen … »Diese Schüsse galten dem ganzen Land«, orakelte der Bundespräsident in jedes Mikro, das ihm vor die Nase gehalten wurde. Er war neben dem Generalbundesanwalt der meistinterviewte Mensch in diesen Tagen und sein Satz der meistzitierte der kommenden Wochen.
Diese Schüsse. Dem ganzen Land.
Je öfter ich sein Mantra vernahm, desto mehr ärgerte ich mich darüber. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Schüsse jemandem wie mir gegolten haben sollten. Falls doch, gehörte ich zu den 80 Millionen Davongekommenen, und die vier, die es erwischt hatte, waren einfach Pechvögel. Pechvögel unterschiedlicher Herkunft übrigens. Eines der Opfer stammte aus Italien, ein anderes war mit einem Amerikaner verheiratet. Insofern hätte der Bundespräsident ebenso gut behaupten können, das Attentat habe der ganzen Welt gegolten. Was Attentate ja irgendwie immer tun.
Der Anschlag ereignete sich am Samstagabend um Viertel nach acht. Ich selbst genoss das Privileg der Unwissenheit noch bis zum nächsten Morgen, dann informierte mich mein Freund Fatty. Natürlich stellte ich sofort den Fernseher an und zappte durch die Sondersendungen auf allen Kanälen, um die Kommentare von Experten, Politikern und dem Mann auf der Straße in mich aufzusaugen. So verständlich die allgemeine Hilflosigkeit war, so erschreckend war das Geschwätz. Keiner wusste Genaueres, aber alle hatten etwas zu sagen. Der eine verurteilte das Attentat, der andere warnte vor Amokläufern, für den Dritten waren es islamische Terroristen, der Vierte hatte Angst vor einem Weltkrieg. Gesicherte Fakten, Hintergrundinformationen? Fehlanzeige. Wer sie besaß, hielt sich bedeckt; Polizei, Geheimdienste und Justiz bildeten eine große Koalition des Schweigens. Mit Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen, wie es hieß.
Nun, das war sicher vernünftig; hilfreich war es nicht. Nicht für einen Zuschauer, der sich durch das Geschehen in irgendeiner Form getroffen fühlte – und wer tat das nicht? –, den angesichts von vier Toten die eine Frage umtrieb: warum? Warum dieses sinnlose Sterben von Menschen, die keinem etwas Böses getan hatten, die kein Land überfallen, keine Minderheit unterdrückt hatten? Als ich vormittags zum Bäcker ging, um ein paar Laugenbrötchen zu kaufen, stand den Leuten genau diese Frage ins Gesicht geschrieben. Ihre Mimik sprach Bände. All der Fassungslosigkeit, des Kopfschüttelns und der betretenen Floskeln hätte es gar nicht bedurft. Die Leute wollten wissen, was passiert war. Und vor allem, warum.
Die Bild-Zeitung hatte jede Menge Antworten parat, man musste sich nur eine aussuchen. Ich blätterte sie kurz durch, ohne sie vom Stapel zu nehmen. Anschließend überkam mich das dringende Bedürfnis, mir die Finger zu waschen.
Warum? Diese Frage stellten sie sich in Bagdad seit Jahren. Und würden nie eine Erklärung bekommen. Nicht einmal auf Englisch.
Zurück im Haus, schaltete ich den Fernseher wieder ein und ließ mich vom Geschwätz der Nichtwisser einnebeln. Wenn die Informationen im Informationszeitalter aus Nichtinformationen bestehen, implodiert das System irgendwann. Ich merkte, wie Wut auf all die mikrobewaffneten Wichtigtuer in mir aufstieg. Als ich vier von ihnen zusammenhatte, die ich am liebsten umgelegt hätte, drückte ich den Aus-Knopf und stürmte aus der Wohnung.
Mein Rennrad trug mich hoch hinaus in den Odenwald. 300 Meter über dem Niveau des Uniplatzes war die Luft frisch und klar. Niemand sprach, niemand belästigte einen mit Einschätzungen,
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