Altstadtfest
Mutmaßungen, Spekulationen. Der Wald war wie immer, leer und groß und doch wunderschön. Ich fuhr einsame Wege, ohne Ziel, einfach kreuz und quer unter den Wipfeln hindurch. Laut keckernd warnten Eichelhäher vor mir und meiner Spezies. Wie recht sie hatten! Ich war nicht froh, nicht traurig, einfach nur Hülle für Gedanken und Erinnerungen und bescheidene Zukunftspläne. Heute Abend ein paar Bierchen, eisgekühlt. Schachspielen im Englischen Jäger. Mit Christine ins Kino, sobald sie aus Rom zurück war. Ja, sogar das. Wann meine Exfrau von der Schießerei wohl erfahren würde?
Hinter Heiligkreuzsteinach fuhr ich eine Gruppe von Wanderern fast über den Haufen. Wir entschuldigten uns gegenseitig, ohne uns in die Augen zu sehen. Die Sonne schien kräftig. Bergab summten meine Reifen gut gelaunt.
So verging der Sonntag. Ab und zu das Radio eingeschaltet, durch die TV-Kanäle mäandert. Die islamistische Gefahr. Kampf der Kulturen auf dem Heidelberger Uniplatz. Ein Einzeltäter, geistesgestört. Linksterror, Rechtsterror. Die vielen Gewaltvideos und der Fernsehkonsum. Hollywood hatte Schuld und die Wiedervereinigung und der Verlust der Werte. Das Ganze von vorn.
Um neun brachte das dritte Programm endlich eine akzeptable Sendung. Mit dem Vierfachmord vom Uniplatz hatte sie nur indirekt zu tun. Wenn man, so hatten sich die Redakteure gedacht, ratlos vor den gegenwärtigen Ereignissen stand, lohnte vielleicht ein Blick in die Vergangenheit: auf all die Attentate, die Heidelberg bereits hinter sich hatte. Und das waren nicht wenige. 1972 der Anschlag auf die US-Kasernen in der Südstadt. Drei Soldaten tot, fünf verletzt. 1981 der Beschuss von General Kroesen und seiner Frau, als ihre Limousine aus dem Königstuhltunnel kam. Außerdem Aktionen der Revolutionären Zellen, Farbbeutelattentate randalierender Studenten, Tomaten- und Eierwürfe. Ja, in Heidelberg war einiges los gewesen früher. Nur zu einem Attentat auf Hitler oder einen seiner Nazibonzen hatte es nie gereicht.
Erschlagen von all den Aufarbeitungen und dem Palaver, fiel ich um elf ins Bett. Ich hatte ein Bier getrunken, ohne darauf zu achten. Die Flasche war plötzlich leer gewesen, einfach so.
Ob der nächste Tag wieder so ein Scheißtag werden würde?
In jedem Fall wurde er anders. Ich stand ungewöhnlich früh auf, hörte beim Kaffeekochen die Acht-Uhr-Nachrichten, und die allererste Meldung ließ mich auf die Straße eilen und im Kiosk an der Ecke ein Exemplar der Neckar-Nachrichten erstehen. Tatsächlich, da stand es, so breit es das Zeitungsformat erlaubte: ›Neonazis laufen Amok‹.
Neonazis? Ich schaute mich um, ob das noch meine Stadt war, mein Land, meine Straße, in der ich wohnte. Es sah alles aus wie sonst. Der Himmel war blau, über mir stritt sich ein Elsterpärchen, die Jungs von der Müllabfuhr sammelten gelbe Wertstoffsäcke ein. Aber irgendwo in einer anderen Straße saß angeblich ein Rudel durchgeknallter Rechtsradikaler und heckte einen Anschlag auf den Heidelberger Herbst aus. Glauben wollte ich das nicht. Auch wenn es in der Zeitung stand. Papier ist schließlich geduldig.
Nein, ich glaubte nicht, was die Neckar-Nachrichten da in die Welt hinausposaunten. Das Ganze war eine Ente, und nicht einmal eine gelungene. Bis zum späten Vormittag dachte ich so. Dann gab es eine Pressekonferenz, bei der ein Sprecher des Generalbundesanwalts mit versteinerter Miene bestätigte: Es waren Neonazis.
Aber ich greife voraus.
1
Als der Verrückte auf dem Uniplatz um sich ballerte, wurde im Englischen Jäger mal wieder die Welt gerettet.
Erst ging es um Außenpolitik, dann um Fußball. Was mitunter dasselbe ist. Wichtige, welterschütternde Themen wurden gewälzt, wie Sisyphos seinen Stein wälzte, immer hoch auf den Heiligenberg und wieder hinunter, und am Ende war jeder von uns ein Philosoph, der steile Theorien aus seinen kleinen grauen Zellen destillierte, bevor sie sich der Alkohol griff. Die Bedeutung Heidelbergs für den Rest der Welt: geklärt. Der 11. September: abgehakt. Ballacks Wade, die Wirtschaftskrise und das neue Stadion in Sinsheim: alle Fragen beantwortet, sämtliche Probleme beseitigt.
»Angriff ist die beste Verteidigung!«, rief einer. »Auch am Hindukusch!«
»Unsinn!«, ein anderer. »Die Null muss stehen. Haste hinten nix, biste vorne nix.«
»Keine Experimente!«
»Elf Freunde müsst ihr sein!«
»Oder zwölf, wenn der Schiedsrichter bestochen ist.«
»Ganz egal, auf die Abwehr kommt es an.«
Wer
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