Am Ende der Angst
Ledersessel und starrte auf die Akten, die vor ihm lagen. Neben den Dokumenten stand ein Rahmen, in dem sich ein Foto einer schönen, langhaarigen Frau mit einem dreijährigen Mädchen im Arm befand. Er lächelte, als sein Blick müde auf das Bild fiel.
Vom Gang ertönte wieder Gelächter.
Das Lächeln auf seinen Lippen erstarb. Sie feierten weiter, ahnungslos, glücklich und zufrieden, weil sie heute eine Prämie erhalten hatten, weil die Bank in diesem Monat unerwartet einen Millionen-Gewinn eingefahren hatte. Er beneidete sie um ihre naive Freude, die weder Angst noch Verrat kannte. Aber morgen war endlich alles vorüber.
Er räumte die Akten zur Seite. Um diese liegengebliebenen Sachen würde er sich morgen ebenfalls kümmern. Jetzt wollte er nach Hause.
Er stand auf und nahm seine Aktentasche, die an der Seite des Schreibtischs lehnte. Dann ging er zur Tür, löschte das Licht und schritt durch das Büro seiner Sekretärin und dann den leeren Gang hinunter zum Fahrstuhl, der ihn in die Tiefgarage führte.
In der vorderen Hälfte der Garage stand sein Wagen, ein großer, schwerer Mercedes der S-Klasse. Die Parkplätze daneben waren leer. Tagsüber standen dort die Luxuswagen der Männer aus der Führungsetage nebeneinander, einer neuer und teurer als der andere. Dass der Mercedes von Andreas Werner ebenfalls darunter war, schien ein Zeichen, dass er es geschafft hatte. Was auch immer das bedeutete.
Mit der Fernbedienung öffnete er den Wagen, bevor er einstieg. Die Aktentasche landete auf dem Beifahrersitz, aus der Innentasche seiner Anzugjacke holte er die Karte für das Tor. Danach startete er den Wagen und fuhr Richtung Ausgang.
Es war ein langer Tag gewesen – er sehnte sich nach einem Bier, nach der Umarmung seiner Frau und dem Gute-Nacht-Kuss für seine Tochter.
Als er am Tor angekommen war, fuhr er mit dem elektrischen Fensterheber das Fenster runter, schob seine Karte hinein und öffnete damit das Tor. Der Wachschutzmann winkte ihm zu, als er an ihm vorüber in die Straßen der Stadt fuhr, doch Andreas Werner bemerkte es nicht.
Ein kalter Windstoß kam von draußen in den warmen Wagen. Er roch nach der Schwäche des Winters und der Hoffnung auf Frühling.
Die Dunkelheit hatte sich längst über die Stadt gesenkt. Die Straßenlampen leuchteten Andreas Werner den Weg aus dem Gewirr von Straßen und Häusern der City. Er fuhr Richtung Westen, am Kanal entlang. Noch war der Verkehr dicht, doch je mehr er sich vom Stadtkern entfernte, desto leerer wurden die Straßen. Bis er allein war auf dem Damm. Der Mond brach aus den Wolken hervor und tauchte den Asphalt in ein kaltes, weißes Licht. Das Spiegelbild seines halben Körpers brach sich in den Wellen des Kanals und schimmerte im nassen Gras am Straßenrand.
Doch Andreas Werner hatte keinen Blick für dieses Naturschauspiel. Er starrte auf die Straße, während er sich noch einmal das Telefonat vom heutigen Morgen ins Gedächtnis rief. Es war gut, dass er ihnen gesagt hatte, wie schwer es ihm fiel, diesen angeblichen Erfolg zu verkünden. Wie abgrundtief er den Betrug hasste, der dahinter steckte. Er war Geschäftsmann, kein Verräter. Das hatte er ihnen gesagt, und sie hatten ihn verstanden.
Andreas Werner atmete tief ein. Er würde aussteigen, morgen bekamen sie seine Rücktrittserklärung, sofern sie überhaupt eine wollten. Er sah hinaus auf den Kanal, der noch immer im Mondschein schimmerte, bis sich eine Wolke vor das Licht schob und Straße und Wasser in Dunkelheit tauchte. Schon morgen würde er mit einem besseren Gewissen nach Hause fahren können.
Gedankenverloren spürte er plötzlich ein unsanftes Rucken des Wagens. Erschrocken sah er auf und blickte in den Rückspiegel. Hatte er etwa ein Tier überfahren? Doch er sah nichts, denn ein großer, schwarzer Truck direkt hinter ihm versperrte ihm die Sicht. Mit einem Blick auf das Armaturenbrett, das unbeeindruckt sanft leuchtete, vergewisserte er sich, dass mit dem Wagen alles in Ordnung war. Vielleicht war es nur ein Schlagloch gewesen.
Doch auf einmal erschütterte ein weiterer Stoß den Wagen. Er sah sich um. Der Truck war direkt hinter ihm, klebte an seiner Stoßstange – und stieß wieder zu.
Andreas Werner fühlte, wie sich feine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Sein Herz schlug schneller und klopfte heftig gegen seine Rippen. Er drückte auf das Gaspedal, um dem schweren Wagen hinter sich zu entkommen, doch der hing wie angeschweißt an seinem Heck.
Der nächste Stoß
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