Am Ende der Straße
über das alles erzählte, sagte er auch etwas, das bei mir hängenblieb: »Es ist kein Kreis. Es ist ein Rechteck. Es umgibt die gesamte Stadt und reicht in den Himmel hinauf.«
Das hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, was sich um uns herum, über uns und – was am allerwichtigsten ist – unter uns befindet. Tief unterhalb der Stadt.
Als mir die Idee kam, wäre ich am liebsten zum Stadtrand gelaufen, hätte mich dicht neben die Dunkelheit gestellt und dort ein Loch in den Boden gegraben, um meine Theorie zu überprüfen. Das ging natürlich nicht. Nicht mit diesem Mob da draußen. Aber auch ohne diesen Feldversuch bin ich mir sicher, Recht zu haben. Eins ist doch klar – irgendwo muss die Dunkelheit aufhören.
Sie kann schließlich nicht quer durch die Erde reichen. Irgendwo muss sie ein Ende haben. Es muss einen Rand der Finsternis geben. Wenn sie ein Lebewesen ist, muss sie doch räumlich begrenzt sein, oder?
Und wenn es so ist, müssen wir lediglich ihren Rand finden und uns an ihm vorbeischieben.
Mein Plan ist simpel. Russ, Christy und ich werden uns in die Gasse hinter dem Haus schleichen. T und Anna haben dort zwar Wachen aufgestellt, aber die können wir hoffentlich töten, bevor sie Alarm schlagen. Kurz vor dem Ende der Gasse, zwischen dem chinesischen Restaurant und dem Briefkasten an der Ecke, gibt es einen Gullydeckel. Dort werden wir in die Kanalisation hinuntersteigen und dann durch die Kanäle laufen, bis wir den Rand der Stadt erreichen. Der Hauptkanal erstreckt sich weit über die Stadtgrenzen hinaus. Er bringt unsere Abwässer meilenweit bis zur Aufbereitungsanlage in der nächsten Stadt. Das ist ebenfalls ein Labyrinth, aber ein anderes als das, von dem Dez sprach. Das Labyrinth aus Rohren führt unter dem Highway entlang hinaus in die Hügel und Wälder. Die Rohre liegen sehr tief. Mit etwas Glück reicht die Dunkelheit nicht so tief in den Boden hinein.
Mit etwas Glück gibt es ein Licht am Ende des Rohrtunnels.
Es kann nicht sein, dass nur noch wir übrig sind. Da draußen muss es noch irgendjemanden – oder irgendetwas – geben.
Wenn ihr dieses Notizbuch findet und es lest, kann das zweierlei bedeuten. Entweder seid ihr ebenfalls in Walden
gefangen, oder die Krise ist vorbei und die Dunkelheit verschwunden. Im ersten Fall könnt ihr uns gerne folgen. Ich weiß noch nicht, wohin wir gehen werden, aber alles ist besser als das hier. Das ist wahrscheinlich nicht die Antwort, auf die ihr gehofft hattet, und das tut mir durchaus leid, aber mehr habe ich nicht zu bieten. Diese Sache kann man nicht nett verpacken und eine Schleife drumbinden. Entweder gelingt uns die Flucht oder nicht. Und wenn ihr uns folgt, werdet ihr es selbst herausfinden.
Wie dem auch sei …
Wir gehen jetzt. Wir werden in die Dunkelheit hinausgehen.
Und falls sich herausstellen sollte, dass Christy doch die ganze Zeit über richtig gelegen hat und wir tatsächlich tot sind, gehen wir wohl erst in die Dunkelheit und dann ins Licht. Und das wäre auch in Ordnung. Mir ist egal, wohin uns das Licht führt. Ich würde es nur gerne noch ein einziges Mal sehen.
Lebt wohl.
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN
Deutsche Übersetzung von Charlotte Lungstrass
Deutsche Erstausgabe 08/2011
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Copyright © 2010 by Brian Keene
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eISBN 978-3-641-06894-3
www.heyne-magische-bestseller.de
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