Am Ende ist da nur Freude
also zog ich einen Stuhl zu ihrem Bett, setzte mich und beugte mich zu Mrs. Riley.
»Es sind so viele von euch da«, bemerkte Mrs. Riley sanft.
»So viele von wem?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht.« Dann sagte sie ganz deutlich: »Ihr seid alle so jung – ihr seid noch so jung.«
»Wissen Sie, warum sie hier sind, Mrs. Riley?«, fragte ich.
»Sie laden mich ein, zu ihnen zu kommen.«
»Wie viele sind es?«
»So viele«, erwiderte sie. »Es ist so voll hier. Ich kann gar nicht glauben, dass so viele da sind.«
»Erkennen Sie jemanden?«
»Ich kann ihre Gesichter nicht richtig erkennen – nur manche. Es ist verschwommen. Aber ich sehe Timothy. Er war mein erster.«
»Ihr erster was?«
»Mein erster Schüler, der gestorben ist.«
Katie krallte sich förmlich in meinen Arm, während ich Mrs. Riley weiter Fragen stellte. »Das ist aber sehr nett, dass Ihre Eltern und Ihre Schüler Sie besuchen kommen. Sie müssen eine wunderbare Lehrerin gewesen sein.«
»Nett« war alles, was sie sagte.
Als die junge Krankenschwester und ich wieder gegangen waren, behandelte sie mich, als könne ich mit Geistern reden. Sie überhäufte mich mit Fragen wie »Woher haben Sie das gewusst? Und woher haben Sie auch gewusst, dass sie Lehrerin war? Haben Sie geraten oder wussten Sie das intuitiv?«
Ich hätte mich ja gerne als medial oder allmächtig darstellen lassen, aber ich beschloss doch, Katie die Wahrheit zu sagen. »Ich habe ihren Lebenslauf in der Akte gelesen und dabei herausgefunden, dass sie über 40 Jahre lang unterrichtet hat. Ich dachte, vielleicht werden Lehrer und Lehrerinnen ja in ihren Halluzinationen von ihren ehemaligen Schülerinnen und Schülern getröstet. Oder vielleicht kommen bestimmte Schüler zu ihr, weil sie in deren
Leben eine wichtige Rolle gespielt hat. Wie dem auch sei, Mrs Riley wirkt zufrieden und es scheint ihr gut zu gehen, und nur das ist wichtig. Ich weiß, es ist ungewöhnlich; aber mit der Zeit werden Sie sich an die Visionen Ihrer Patienten gewöhnen.«
Abschließend hatte das Team eine lange Besprechung wegen Mrs Riley. Sie war ihr ganzes Leben lang unverheiratet geblieben und hatte sich hingebungsvoll dem Unterrichten gewidmet. Wir sprachen darüber, ob die Kinder in ihrer Vision, die sie nicht klar erkennen konnte, ihre Schüler waren, die sie in den vier Jahrzehnten unterrichtet hatte. Sie hatte keine Familie, und doch hatte sie angesichts der Vision nie Angst. Sie starb friedlich … und hat ohne ihr Wissen Katie sehr viel über das Ende des Lebens beigebracht.
Sprich nicht mit den Leuten
von Rita
Ich bin Sozialarbeiterin in einem Krankenhaus auf dem Land. Eine Patientin, die ich nie vergessen werde, war eine 75-jährige Frau, bei der Darmkrebs festgestellt worden war. Annie war Realistin und sehr bodenständig. Sie sagte, sie habe in ihrem Leben viel erreicht und sei bereit, die Wahrheit über ihre Erkrankung zu hören und zu akzeptieren. Doch ihre Familie (besonders ihre Tochter April) beharrte darauf, dass es nichts gäbe, womit ihre Mutter nicht fertig würde. Sie liebten sie und wollten so sehr, dass sie bei ihnen bliebe – so machten sie sich vor, ihrer Mutter ginge es besser, auch wenn das in Wirklichkeit gar nicht der Fall war.
Bevor es mit Annies Gesundheit bergab gegangen war, hatte sie immer sehr viel Energie. Jetzt schlief sie mehr und sprach weniger. Innerhalb weniger Wochen stellte sie das Sprechen sogar ganz ein und verbrachte den größten Teil des Tages dösend. Ihre Lieben fühlten sich hilflos. Sie saßen still bei ihr und achteten darauf, dass sie keine Schmerzen hatte. Doch eines Nachmittags wachte sie auf, setzte sich kerzengerade hin und fing an, ganz ruhig zu sprechen.
Die Familie schöpfte neue Hoffnung. Vielleicht war sie auf dem Weg der Besserung, sagten sie zueinander.
Nur äußerst ungern wollte ich ihren Hoffnungen einen Dämpfer verpassen, aber ich musste den Verwandten meiner Patientin einfach sagen, dass eine so plötzlich einsetzende klare Sprache kein Anzeichen dafür war, dass es mit ihr wieder bergauf ging – eher bedeutete dies einen letzten Energieschub vor dem Tod.
Und als wären meine schlechten Nachrichten noch nicht genug, konnte Annie zwar wieder sprechen, unterhielt sich aber nicht mit ihrer Familie. Stattdessen sprach sie mit unsichtbaren Menschen in der Zimmerecke.
»Mam, mit wem sprichst du?«, fragte April.
»Mit Menschen, die ich schon mein ganzes Leben lang kenne. Sie sind schon lange von uns gegangen, aber
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