Crystall (German Edition)
Wirklich nur ein Traum?
„Verdammt, ich komme ja schon wieder zu spät“, brachte Mandy gepresst zwischen den Zähnen hervor. Ihr braunes Haar mit den einzeln geflochtenen Strähnen flog zurück, als sie im Eiltempo die Straße entlang lief. Zum Glück war sie alleine, sonst hätte sie unter Garantie sämtliche Passanten über den Haufen gerannt. Aber es war später Abend und sie einsam in der Dunkelheit zwischen hohen Gebäuden und leeren Straßen. Alle zehn Meter leuchtete ihr eine schwach scheinende Laterne und erzeugte Schattenbewegungen, die sie meist argwöhnisch beäugte. Sie hatte keine Angst vor der Dunkelheit, immerhin war sie für ihre sechzehn Jahre ein großes Mädchen, doch sie ertappte sich häufiger dabei, wie sie den monotonen Klackgeräuschen ihrer Schuhe lauschte, die durch die Straßen hallten.
Sie blickte nervös auf die Uhr, um anschließend noch einen Zahn zu zulegen. Wie üblich würde sie später ankommen, als ihre Mutter verlangte und sie dachte erst gar nicht über eine Ausrede nach. So stürmte sie einfach die menschenleere Straße hinunter, ihr Zuhause war nur noch drei Blocks entfernt.
Gedanklich entrann Mandy ein Fluch nach dem anderen, ihre Mutter würde sich Sorgen machen, die sie eigentlich auch verstand. Ihr Vater war früh gestorben und sie lebten alleine im Haus. Zudem hatten sie kaum Verwandtschaft, bis auf ihren verrückten Großvater, der ständig irgendwelchen Unsinn daher redete.
Zum Teufel, sie verstand ihre Mutter doch, warum nur hörte sie nie und machte es ihr noch schwerer. Dazu kam auch, dass sie morgen früh aufstehen musste.
Mandy entfernte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und beobachtete dann ihre Beine. Noch ein Stück schneller und sie würde stolpern. Das hätte zu guter Letzt auch noch gefehlt.
Blind eilte sie über die Straßen, sie war die Einsamkeit um diese Uhrzeit gewöhnt, obwohl sie in einer größeren Stadt wohnte, nicht in einer winzigen Gemeinde.
Das wilde Hupen eines Autos schreckte Mandy aus den Gedanken und versetzte ihrem Herzen einen heftigen Stoß, sodass sie unweigerlich stehen blieb. Haarscharf vor ihrer Nase brauste ein Cabriolet vorbei und eine junge Frau starrte sie aus giftigen Augen an. „Hey Alte, pass auf oder wir fahren dich über den Haufen!“
„Verpisst euch!“, schrie Mandy verärgert hinterher, doch das Auto war bereits außer Hörweite. Darum schüttelte sie nur den Kopf und lief weiter. Die waren in dieser Stadt anscheinend alle vollkommen durchgeknallt. Ein Auto und ein junges Mädchen einsam in einer riesigen Stadt, da war es doch nur völlig normal, dass sie beinahe aneinander rasselten.
Aber sie kannte das. Wenn der Tag einmal schief anfing, wurde er meistens ein Chaos.
Nach weiteren fünf Minuten erreichte Mandy endlich den richtigen Häuserblock. Eilig lief sie auf die Nummer zweiundzwanzig zu. Nach einem kurzen Moment des Zögerns betätigte sie die Klingel.
Gleich geht’s los , dachte sie und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, um dem ersten Ansturm ausweichen zu können.
Aber es kam anders. Ihre Mu tter schob sanft die Tür beiseite und musterte ihre Tochter mit einem enttäuschten Blick. Sie blieb gelassen. „Sollte mich das wundern? Elf Uhr ist wohl nicht deine Zeit.“
„Sorry, Mum.“
Die Frau mittleren Alters sah Mandy vorwurfsvoll an. „Ich weiß, du hast immer eine Menge vor und es ist mir eigentlich auch egal, ob du ein oder zwei Stunden später kommst ... aber du weißt ganz genau, was morgen ist.“
„Ich, äh...“
„Komm erst mal rein.“ Die blondhaarige Frau ging zurück und wartete, bis ihre Tochter folgte. Mandy nahm wortlos am Küchentisch Platz. Ihre Mutter brachte ihr ein kleines Abendmahl und setzte sich.
„Willst du wissen, wo ich war?“, fragte Mandy gereizt, bereute die Worte jedoch gleich wieder, als sie merkte, dass sie unfair wurde.
„Interessiert mich nicht ... du wirst es doch wohl ein einziges Mal im Jahr schaffen, pünktlich zu kommen.“
„Tut mir leid, ich...“ Mandy brach ab, denn sie wusste genau, dass sie sonst wieder etwas erzählte, was ohnehin keiner glauben würde.
„Wenn du nicht fahren willst, brauchst du das doch nur zu sagen.“
„Nein, nein.“ Sie nahm einen Bissen, trank einen Schluck und schob das Essen dann von sich. „Ich fahre mit. Ich weiß genau, du hast es schwer und Großvater ist immer alleine. Kein Problem.“
„Aber?“
Mandy sah ihre Mutter geschlagene zehn Sekunden verdrossen an. „Na
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