Am Fuß des träumenden Berges
wurde er hart, und sie fürchtete, diese kleine Annäherung schon wieder kaputt gemacht zu haben. Doch dann entspannte Matthew sich. «Wir haben beide Fehler gemacht», räumte er ein. «Ich habe geglaubt, du seist an Chris’ Tod schuld, weil …»
«Ja, weil ich auch an dem Unfall von Rudolf und Alfred schuld bin. Ich weiß.» Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl und wiegte den kleinen Alfred.
«Ich habe mich geirrt.» Matthew setzte sich aufs Bett. «Es war … meine Art zu trauern, nehme ich an. Ich bin nicht gut in so was. Das war schon bei meinen Eltern so. Es musste immer einen Schuldigen geben, und beide Male fand ich ihn recht schnell.»
Audrey wollte etwas einwenden, aber Matthew hob die Hand. «Nein, lass mich bitte ausreden. Einmal nahm ich alle Schuld auf mich, aber davon habe ich mich nicht besser gefühlt. Und bei Chris, da war es leichter, dir alle Schuld in die Schuhe zu schieben, weil ich ja nicht da war. Und als ich hier in den letzten Monaten saß, da dachte ich immer, na ja … Vielleicht bin ich auch diesmal mitschuldig, eben weil ich nicht da war. Ich hab dich allein gelassen.»
«Du hattest keine andere Wahl.»
«Es hat mich niemand gezwungen, mich zu melden. Sie hätten auch auf mich verzichtet, und glaub mir, am Ausgang des Kriegs hätte das nichts geändert.»
«Ich habe gehört, sie haben die Deutschen bis weit in den Süden von Tanganjika abgedrängt.»
«Das habe ich auch gehört. Keine Nachricht von Benjamin. Machst du dir um ihn Sorgen?»
«Ich habe mir nur um dich Sorgen gemacht. Ständig.» Sie hielt den Kopf gesenkt. Alfred schlief in ihren Armen, und sie bemerkte etwas Feuchtes an seiner Wange. Es waren ihre eigenen Tränen.
«Es geht mir gut», sagte Matthew leise.
Sie schwiegen lange.
«Bitte, komm nach Hause», sagte Audrey schließlich. «Ich brauche dich.»
«Ich komme. Bald», versprach Matthew, und ihr Herz tanzte vor Freude. «Vorher muss ich aber noch etwas erledigen.»
«Und was?»
«Tim Ricket ordentlich aufs Dach steigen, damit er endlich unseren Tee bezahlt.»
Sie lächelte unter Tränen.
Es war nicht alles wieder gut. Sie beide hatten einander verletzt, und sie trugen diese Verletzungen und Vernarbungen in sich und würden sie nie mehr loswerden. Aber dass sie jetzt wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blickten, das konnte ihnen niemand nehmen.
Unten im Flur war ein Poltern zu hören, dann das Trappeln kleiner Füße. Audreys Kopf ruckte hoch. «Ist das Thomas?»
Matthew nickte. «Er hat dich vermisst. Er kann es nicht sagen, aber … ich weiß es.»
Sie stand auf, wusste einen Moment nicht, wohin mit Alfred, denn sie wollte die Hände frei haben, um ihren Ältesten in die Arme zu schließen. Matthew nahm ihr das Kind ab, und sie stürzte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter.
Im Flur stand Mary. Sie blickte ängstlich zu Audrey hinauf, doch als sie ihre Dienstherrin erkannte, lächelte sie vorsichtig. «Er ist in der Küche bei Mrs. Johansson. Sie gibt ihm jeden Tag ein großes Glas Milch.»
Audrey trat in die Küche. Ihr Herz schlug heftig.
Thomas saß auf einem Küchenstuhl. Mit beiden Händen hielt er ein Glas Milch umklammert und leerte es mit konzentrierten, großen Schlucken. Mrs. Johansson beugte sich über ihn und passte auf, dass er nichts verschüttete.
«Thomas.» Audrey streckte die Arme aus.
Der Kleine sah sie an wie eine Fremde. Groß war er geworden, ein richtiges Kind. Die dunklen Locken hatte er von ihr, doch das Braun seiner Augen kam von seinem Vater. Sie wollte ihn an sich drücken und nie mehr loslassen, aber er drehte sich von ihr weg und zog die Schultern hoch. Trotzdem küsste Audrey ihn sanft auf die Wange. «Ich bin’s. Deine Mama.»
Matthew stand hinter ihr, den kleinen Alfred auf dem Arm. «Das hat er manchmal.»
«Ich war ja auch so lange fort.» Audrey seufzte. Sie stand auf und nahm Alfred.
Ich muss ihm Zeit geben, dachte sie. Wir alle brauchen jetzt viel Zeit.
Matthew hielt sein Versprechen. Er ging noch am selben Tag zu Tim Ricket. Audrey erfuhr nie, was er mit dem Händler vereinbarte, aber er kam nach drei Stunden zurück und hatte das Geld. Das war ihre Chance auf einen Neuanfang. Es waren keine Reichtümer, aber es würde genügen, um auch dieses Jahr den Tee auf The Brashy zu ernten und zum Verkauf zu bringen.
Danach mussten sie weitersehen.
Sie blieben noch eine Nacht im Haus der Kapitänswitwe. Fanny schlief bei den Tuttlingtons. Mary verbrachte die Nacht in der Küche auf der Bank,
Weitere Kostenlose Bücher