Leichtes Beben
|11| Eins
Klaus Bellmann fuhr auf die Einfahrt zu, grüßte den in seinem Häuschen sitzenden Pförtner durch Handzeichen und lenkte den Wagen auf den kopfsteingepflasterten Innenhof. Dort schaltete er den Motor aus, zog die Handbremse an, nahm die in weißes Papier eingeschlagene Kirschsaftflasche vom Beifahrersitz und stieg aus.
Er legte den Kopf in den Nacken und spähte hinauf zu den vergitterten Fenstern. Hinter einem von ihnen lebte sein Vater. Der große, der verrückte Hans Bellmann. Achtundsiebzig Jahre alt, und seit über zwanzig Jahren unter ärztlicher Aufsicht. Irgendwann war alles zu viel für ihn geworden. Die anhaltende Ablehnung seiner Arbeit, seine nie wahr gewordenen erotischen Phantasien und schließlich der plötzliche Selbstmord seiner zweiten Frau in Paris. Alles, was seinem Vater geblieben war, waren seine Erinnerungen und seine Puppe. Wo war sie eigentlich? Dieses von ihm einst geschaffene Artefakt, das er vergötterte und das doch wie nichts anderes für die Niederlage stand, die er durch seine damals fünfzehnjährige Cousine |12| Ursula erlitten hatte, das Objekt seiner nie versiegenden erotischen Obsessionen. In Wahrheit, daran bestand für Klaus Bellmann kein Zweifel, war sie es, die seinen Vater irgendwann um den Verstand gebracht hatte: Ursula Nagajeweski.
Manchmal tauchten irgendwelche Galeristen auf, die seinen Vater zu überreden versuchten, ihnen seine aus der Öffentlichkeit verschwundenen Werke anzuvertrauen. Doch weil Klaus Bellmann seit Jahren das Sorgerecht für seinen unmündigen Vater hatte, waren ihre Vorstöße jedes Mal erfolglos gewesen.
Hans Bellmann hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in gewissen Kreisen als bedeutender sogenannter Transrealist gegolten und unter den damals angesagten Surrealisten in Paris, wohin er emigriert war, für Aufsehen gesorgt mit seiner berühmten Schwarzweißfotoserie »Die Spiele der Puppe«. Per Selbstauslöser hatte er sich gemeinsam mit der Puppe als ins Morbide verliebter Grübler inszeniert.
Die neuere Kunstgeschichte führte ihn dagegen als »phantastischen Realisten« und belegte ihn mit Begriffen wie Voyeurismus, Fetischismus und gar Pädophilie. Bisweilen wurde er auch als »Inszenierer anarchistisch-erotischer Spiele« bezeichnet. Arbeiten von ihm konnten im Museum of Modern Art in New York besichtigt werden. Inzwischen aber war er vergessen und nur noch Insidern ein Begriff.
Jahrelang hatte die auf den einst aufsehenerregenden Schwarzweißfotos seines Vaters abgebildete, in dunkle Schatten gehüllte Puppe Klaus Bellmann bis in seine Träume verfolgt. Oft fuhr er mitten in der |13| Nacht aus dem Schlaf hoch, weil er sich von der langhaarigen, nur mit einem ärmellosen hellen Trägerhemdchen bekleideten und verblüffend menschlich wirkenden Figur aus Pappmaché bedrängt fühlte.
Lange war es ihm aus diesem Grund unmöglich gewesen, den Speicher ihres Hauses zu betreten, auf dem die Puppe in einem Karton lagerte. Ebenso wie seine alten Spielsachen.
Nun nahm er die Stufen, die zu dem grauen Gebäude mit den vergitterten Fenstern hinaufführten, und drückte den Klingelknopf. Nach ein paar Sekunden erschien eine Schwester hinter der ebenfalls vergitterten Glastür, zog einen dicken Schlüsselbund aus ihrer Strickjacke und ließ ihn herein.
»Guten Tag, Herr Bellmann«, sagte sie mit einem kraftlosen Lächeln und schloss hinter ihm wieder ab. Unter der Strickjacke trug sie einen weißen Kittel und dazu passende weiße, an den Fersen offene und über dem Spann feingelöcherte Schuhe. An ihrem rechten Schienbein leuchtete ein ziemlich großer Bluterguss.
»Guten Tag«, erwiderte er. »Wie geht es meinem Vater?«
»Wie immer. Ich glaube, er hat sich hingelegt«, sagte die Frau und drehte sich auf dem Absatz um. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Bei jedem Schritt quietschten die Sohlen ihrer Latschen auf dem braungrau marmorierten Linoleum, untermalt vom Klimpern der Schlüssel in ihrer Jackentasche.
Auf dem Flur standen Gestalten, die ihn anstarrten. Ein glatzköpfiger Mann im schwarzen Trainingsanzug |14| hatte seine Hand in die Hose geschoben und keuchte. Der vielleicht dreißig Jahre alte Mann daneben, der eine Lederhose, einen dicken grauen Wollpullover und Sandalen trug, riss immer wieder ruckartig den Mund auf und schlenkerte mit den Armen. Als Klaus Bellmann die Tür zum Zimmer seines Vaters öffnete, schlug ihm ein säuerlicher Geruch entgegen.
Hans Bellmann lag auf dem Bett, das Gesicht der
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