Am Fuß des träumenden Berges
bleiben könnten», flüsterte sie.
Sie blieb, bis ihr auf dem Boden kalt wurde und ihre Brüste schmerzten, weil es höchste Zeit war, nach Hause zu gehen und ihren Sohn zu stillen. Erst jetzt löste sie sich aus Kinyuas Umarmung und verließ seine Hütte.
Davor hockte Wakiuru auf dem Boden und zeichnete mit einem Stecken Zeichen in den Staub.
Audrey wich erschrocken zurück. «Hast du mir aufgelauert?», zischte sie.
Wakiuru blickte schweigend zu ihr auf und lächelte. Dann erhob sie sich schwerfällig, fuhr mit dem Stecken über die Zeichenfolge und klopfte sich die Hände am Umhang sauber. «Nur denen, die ich nach Hause begleite.»
Sie zog die Fackel aus dem Boden neben der Hütte und ging voran. «Nun komm, Memsahib», sagte sie. «Ich bringe dich heim.»
Nie war ihr etwas wahrhaftiger vorgekommen als diese Worte. Heim. Ja, das Haus war ihr Heim, The Brashy war ihre Heimat. Es war eine Wohltat zu wissen, dass sie nie mehr weg wollte.
«Meinst du, dein Bruder wird irgendwann wieder so wie früher sein?»
«Das glaube ich nicht», antwortete Wakiuru, und sie klang dabei ganz unbekümmert. «Wie schrecklich wäre es, wenn es so wäre? Wenn wir Menschen immer so blieben, wie wir waren?»
Mitten im Wäldchen hielt Wakiuru Audrey fest, damit sie stehen blieb. «Aber er wird schon bald nicht mehr vom Geist eurer gemeinsamen Zeit besessen sein. Das ist das Wichtigste.»
Wann werde ich wohl nicht mehr vom Geist unserer Zeit besessen sein?, fragte Audrey sich. Werde ich überhaupt irgendwann vergessen können, was in diesem Jahr passiert ist?
«Du wirst das auch schaffen», bekräftigte Wakiuru. Audrey wunderte sich nicht mehr. Vielleicht musste sie einfach hinnehmen, dass die Kikuyufrau immer ihre Gedanken erriet.
Irgendwo in der Ferne hörte sie einen Vogel rufen, und sie blieb erneut stehen. Wakiuru ließ ihr Zeit. Sie stand einen Schritt hinter Audrey und wartete einfach, bis sie bereit war weiterzugehen.
«Ich habe nie darüber nachgedacht, wie viel Glück ich hatte. Ich hab es einfach hingenommen.»
«Das tun die meisten Menschen. Sie wehren sich nur gegen das Unglück. Wenn es zu spät ist.»
Audrey nickte. Das leuchtete ihr ein.
«Ich will, dass Matthew nach Hause kommt.»
«Wenn du es wirklich willst, geschieht es auch.»
Sie erreichten den Waldrand. Audrey drehte sich ein letztes Mal zu Wakiuru um, und zur Überraschung beider umarmte sie die Kikuyufrau. «Danke», flüsterte sie.
Dann lief sie über den Rasen zum Haus. Schon von weitem hörte sie ihren Sohn weinen, und sie beschleunigte ihre Schritte.
Fanny wiegte den Kleinen, aber sie schaffte es nicht, ihn zu beruhigen. Audrey nahm ihr das Kind ab und ging ins Kinderzimmer. Noch im Gehen knöpfte sie ihre Bluse auf, und kaum saß sie im Schaukelstuhl, hatte er bereits ihre Brust gefunden und trank.
Sie lächelte.
Zum ersten Mal seit langem sah sie sich in diesem Zimmer um. Zuletzt hatte sie den Kleinen bei sich im Schlafzimmer gelassen, und es hatte selten einen Grund gegeben, diesen Raum zu betreten. Es war immer Chris’ und Thomas’ Kinderzimmer gewesen, und jedes Mal, wenn sie den Raum betrat, fühlte sie sich schmerzlich an den Verlust ihrer Söhne erinnert.
Aber das Leben ging weiter. Und sie würde nicht aufhören zu kämpfen.
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37 . Kapitel
Die «Stadt am kalten Wasser» zeigte sich Audrey von ihrer strahlendsten Seite, als sie in der darauf folgenden Woche mit Fanny dort eintraf.
Fanny hatte sich um alles gekümmert, und sie konnten helle, saubere Zimmer im Gästetrakt der Tuttlington-Villa beziehen. Audrey saß auf ihrem Bett und wiegte das namenlose Kind, das sie so sehr liebte, dass sie es nicht in Worte fassen konnte.
«Er weiß, wo Matthew ist.» Fanny schlüpfte ins Zimmer und setzte sich zu Audrey. «Benedict. Er hat Matthew besucht.»
«Wie lange ist das her?» Plötzlich schlug ihr Herz unnatürlich laut.
«Ein paar Monate. Aber … Bitte, du darfst ihm nicht böse sein.»
«Wem, Benedict?»
«Er hat für Matthews Zimmer bezahlt. Er hat doch kein Geld mehr, und bevor er verschwindet, weil er gar nicht mehr weiß, wohin … Du kannst es ihm später zurückzahlen, hat er gesagt. Also, wenn du wieder Geld hast.»
«Du meinst, wenn Ricket seine Schulden bezahlt.»
Sie drückte den Säugling an sich und schloss die Augen. Sie hatte gewusst, dass es schlimm stand, und sie hatte auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Matthew nicht mehr da wäre, dass er einfach verschwunden
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