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Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Titel: Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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hat überhaupt keine erste Reise gemacht, sie ist erfunden und erlogen. Er hat auf der ersten Reise Florida entdeckt. Er hat gar nichts entdeckt, weil er die Reise gar nicht gemacht hat. Er hat den Amazonenstrom als erster gesehen. Er hat ihnerst auf seiner dritten Reise gesehen und ihn früher mit dem Orinoco verwechselt. Er hat die ganzen Küsten Brasiliens bereits bis zur Magalhãesstraße bereist und benannt. Er hat sie nur zum kleinsten Teil befahren, und die Namen waren vor ihm längst gegeben. Er war ein großer Seefahrer. Nein, er hat nie ein Schiff, nie eine Expedition kommandiert. Er war ein großer Astronom. Niemals – alles was er über die Sternbilder schrieb, ist Unsinn. Seine Daten sind richtig. Seine Daten sind falsch. Er war ein bedeutender Pilot. Er war nichts als ein »beefcontractor« und ein Ignorant. Seine Angaben sind zuverlässig. Er ist ein professioneller Schwindler, Gaukler und Lügner. Er ist nach Columbus der erste Entdecker und Seefahrer seiner Zeit. Er ist eine Ehre – nein, er ist eine Schande der Wissenschaft. Alles dies wird in den Schriften zu seinen Ungunsten und zu seinen Gunsten mit gleicher Vehemenz und mit einer Unzahl von sogenannten Beweisen behauptet, belegt und begründet. Und so steht man wie vor dreihundert Jahren wieder genau bei der alten Frage: »Wer war Amerigo Vespucci? Was hat er getan, was hat er nicht getan?« Ist sie zu beantworten? Ist das große Rätsel zu lösen?
    Wer war Vespucci?
    Wir haben versucht, hier
    in ihrem chronologischen Ablauf die große Komödie der Irrungen zu erzählen, die sich rund um das Leben Amerigo Vespuccis innerhalb von drei Jahrhunderten entwickelt und schließlich zur Benennung des neuen Weltteils mit seinem Namen geführt hat. Ein Mann wird berühmt, und man weiß eigentlich nicht warum. Man kann je nach Belieben sagen, mit Recht oder mit Unrecht, durch sein Verdienst oder durch Betrügerei. Denn Vespuccis Ruhm ist eigentlich kein Ruhm, sondern ein Nimbus, weil nicht so sehr durch eine Leistung entstanden als durch eine irrtümliche Beurteilung dessen, was er geleistet hat.
    Der erste Irrtum – der erste Akt unserer Komödie – war die Einstellung seines Namens auf den Buchtitel › Paesi retrovati ‹ gewesen, durch den die Welt vermeinen mußte, Vespucci und nicht Columbus habe diese neuen Länder entdeckt. Der zweite Irrtum – der zweite Akt – war ein Druckfehler, »Parias« statt »Lariab« in der lateinischen Ausgabe, demzufolge man behauptete, nicht Columbus, sondern Vespucci habe das Festland von Amerika als erster betreten. Der dritte Irrtum – der dritte Akt – war der Irrtum eines kleinen Provinzgeographen,der auf Grund der zweiunddreißig Seiten Vespuccis vorschlug, Amerika nach ihm zu benennen. Bis zum Ende dieses dritten Akts ist wie in einer richtigen Hochstaplerkomödie Amerigo Vespucci der Heros; er beherrscht als makelloser Held, als heroischer Charakter die Szene. Im vierten Akt meldet sich zum erstenmal der Verdacht gegen ihn, und man weiß nicht mehr recht, ist er ein Held oder ist er ein Schwindler. Der fünfte Akt, der letzte, der in unserem Jahrhundert spielt, muß also noch eine unerwartete Steigerung bringen, damit sich der geistreich geschürzte Knoten lockert und am Ende sich alles vergnüglich und endgültig löst.
    Nun ist glücklicherweise die Geschichte eine ausgezeichnete Dramatikerin, und wie für ihre Tragödien weiß sie auch für ihre Komödien einen blendenden Abschluß zu finden. Seit jenem vierten Akt wissen wir: Vespucci hat nicht Amerika entdeckt, er hat nicht als erster das Festland betreten, er hat jene erste Reise, die ihn lange zum Rivalen des Columbus machte, überhaupt niemals unternommen. Aber während die Gelehrten auf der Bühne noch streiten, wie viel der anderen Reisen, die Vespucci in seinen Büchern beschrieben, er wirklich gemacht und wieviele nicht, tritt plötzlich ein Mann auf die Szene und bringt die verblüffende These vor, daß nicht einmal jene zweiunddreißig Seiten, so wie wir sie kennen, von Vespucci geschrieben sind, daß diese Schriften, welche die Welt erregten, nichts anderes sind als fremde, unverantwortliche und eigenwilligeKompilationen, in denen handschriftliches Material Vespuccis in gröblichster Weise mißbraucht worden sei. Dieser deus ex machina – er heißt Professor Magnaghi – stellt das Problem also ganz neu auf die Beine, indem er es entschlossen zunächst auf den Kopf stellt. Hatten die anderen als selbstverständlich hingenommen, daß

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