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Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Titel: Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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indischen Küste den Alten und den Arabern unbekannt? Wieso hat Marco Polo sie nicht erwähnt, und wie anders ist, was er von Zipangu und Zaitun berichtet, als was der Admiral gefunden? All das ist so wirr und so widersprechend und voll Geheimnis, daß man nicht weiß, was man glauben soll von diesen Inseln im Westen. Ist wirklich die Welt schon umrundet, ist Columbus tatsächlich schon so nahe dem Ganges gewesen, wie er behauptet, daß er, von Westen kommend, Vasco da Gama begegnen könnte, wenn er von Osten segelt? Ist das Erdrund kleiner, ist es größer als man gedacht? Da haben die deutschen Buchdrucker doch jetzt Bücher so leicht erreichbar gemacht – wenn nur endlich einer käme,all diese Wunder zu erklären! Ungeduldig warten die Gelehrten, die Seefahrer, die Kaufleute, die Fürsten, wartet Europa. Nach all den Entdeckungen will die Menschheit endlich wissen, was sie entdeckt hat. Die entscheidende Tat des Jahrhunderts, so fühlt jeder einzelne, ist vollbracht, aber es fehlen ihr noch der Sinn und die Deutung.
    Für zweiunddreißig Seiten Unsterblichkeit
    1503 flattern beinahe gleichzeitig in den verschiedensten Städten – Paris, Florenz
    , man weiß nicht, in welcher zuerst – ein paar bedruckte Blätter auf, vier bis sechs im ganzen, › Mundus Novus ‹ betitelt. Als Verfasser dieses lateinisch geschriebenen Traktats wird bald ein Albericus Vespucius oder Vesputius genannt, der in der Form eines Briefes an Laurentius Petrus Franciscus de Medici über eine Reise berichtet, die er in bisher unbekannte Länder im Auftrag des Königs von Portugal unternommen habe. Solche brieflichen Berichte über Entdeckungsreisen sind in der damaligen Zeit nicht selten. Alle großen Handlungshäuser Deutschlands, Hollands und Italiens, die Welser, die Fugger, die Medici, und außerdem noch die Signoria von Venedig haben ihre Korrespondenten in Lissabon und Sevilla, die ihnen Nachricht über jede gelungene Expedition nach Indien zum Zwecke geschäftlicher Orientierung geben; diese Briefe ihrer Handelsattachés sind, weil sie eigentlich Geschäftsgeheimnisse vermitteln, sehr gesucht, und ihre Abschriften werden ebenso wie die Karten – die Portolane – der neugefundenen Küsten als Wertobjekte gehandelt. Manchmal fällt eine dieser Abschriften einem geschäftstüchtigenBuchdrucker in die Hand, der sie dann sofort in seiner Presse vervielfältigt. Und diese Flugblätter, welche für das große Publikum die damals noch nicht etablierte Zeitung ersetzen, indem sie interessante Neuigkeiten der Öffentlichkeit rasch zugänglich machen wollen, werden dann zwischen Ablaßzetteln und medizinischen Rezepten auf den Jahrmärkten verkauft. Ein Freund legt sie dem andern in Briefen, in Paketen bei; so erlangt ab und zu ein ursprünglicher Privatbrief eines Faktors an seinen Chef die Öffentlichkeit eines gedruckten Buchs.
    Von all diesen Flugblättern der Zeit hat seit dem ersten Brief des Columbus von 1493, der seine Ankunft an den Inseln »nahe des Ganges« meldete, keines solch allgemeines und keines folgenreicheres Aufsehen erregt als diese vier Blätter des bishin völlig unbekannten Albericus. Schon der Text kündigt eine gewisse Sensation an. Dieser Brief sei » ex italica in latinam linguam «, aus dem Italienischen ins Lateinische übersetzt, »damit alle Gebildeten gewahr werden können
    , wieviele wunderbare Dinge in diesen Tagen entdeckt würden« ( quam multa miranda in dies reperiantur ), wieviel bis zum heutigen Tage unbekannte Welten aufgefunden und was alles in ihnen enthalten sei ( quanto a tanto tempore quo mundus cepit ignota sit vastitas terrae et quod continetur in ea ). Diese marktschreierische Ankündigung ist an sich schon ein kräftiger Köder für die nach Nachrichten hungrige Welt; das kleine Flugblatt findet demgemäß reißenden Absatz. Es wird in den entlegenstenStädten mehrmals nachgedruckt, ins Deutsche, ins Holländische, Französische, Italienische übersetzt und sofort in alle Sammlungen von Reiseberichten, wie sie jetzt in allen Sprachen zu erscheinen beginnen, aufgenommen; es ist ein Markstein, wenn nicht sogar der Grundstein der neuen Geographie für die noch ahnungslose Welt.
    Der große Erfolg dieses winzigen Büchleins ist vollkommen verständlich. Denn dieser unbekannte Vespucius ist der erste von all den Seefahrern, der gut und amüsant zu erzählen versteht. Was sonst auf solchen Abenteurerschiffen sich zusammentut, sind analphabetische Strandläufer, Soldaten und Matrosen, die nicht

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