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Amerika

Amerika

Titel: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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Kandidat, der sich auf den Schultern seines Trägers mehrmals aufzustellen suchte und mehrmals in den Sitz zurückfiel, hielt eine kleine Rede, während welcher er seinen Zylinder in Windeseile hin- und herfahren ließ. Man sah das ganz deutlich, denn während seiner Rede waren alle
    Automobillaternen auf ihn gerichtet worden, so daß er in der Mitte eines hellen Sternes sich befand.
    Nun erkannte man aber auch schon das Interesse, welches
    die ganze Straße an der Angelegenheit nahm. Auf den Balkonen, die von Parteigängern des Kandidaten besetzt waren, fiel man mit in das Singen seines Namens ein und ließ die weit über das Geländer vorgestreckten Hände maschinenmäßig klatschen. Auf den übrigen Balkonen, die sogar in der Mehrzahl waren, erhob sich ein starker Gegengesang, der allerdings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich um die Anhänger verschiedener
    Kandidaten handelte. Dagegen verbanden sich weiterhin alle Feinde des anwesenden Kandidaten zu einem allgemeinen
    Pfeifen, und sogar Grammophone wurden vielfach wieder in
    Gang gesetzt. Zwischen den einzelnen Balkonen wurden
    politische Streitigkeiten mit einer durch die nächtliche Stunde verstärkten Erregung ausgetragen. Die meisten waren schon in Nachtkleidern und hatten nur Überröcke umgeworfen, die
    Frauen hüllten sich in große, dunkle Tücher, die unbeachteten Kinder kletterten beängstigend auf den Einfassungen der
    Balkone umher und kamen in immer größerer Zahl aus den
    dunklen Zimmern, in denen sie schon geschlafen hatten, hervor.
    Hie und da wurden einzelne unkenntliche Gegenstände von
    besonders Erhitzten in der Richtung ihrer Gegner geschleudert, manchmal gelangten sie an ihr Ziel, meist aber fielen sie auf die Straße hinab, wo sie oft ein Wutgeheul hervorriefen. Wurde den führenden Männern unten der Lärm zu arg, so erhielten die Trommler und Trompeter den Auftrag einzugreifen, und ihr
    schmetterndes, mit ganzer Kraft ausgeführtes, nicht
    endenwollendes Signal unterdrückte alle menschlichen Stimmen bis zu den Dächern der Häuser hinauf. Und immer, ganz
    plötzlich – man glaubte es kaum –, hörten sie auf, worauf die hierfür offenbar eingeübte Menge auf der Straße in die für einen Augenblick eingetretene allgemeine Stille ihren Parteigesang emporbrüllte – man sah im Lichte der Automobillaternen den Mund jedes einzelnen weit geöffnet –, bis dann die inzwischen zur Besinnung gekommenen Gegner zehnmal so stark wie früher aus allen Balkonen und Fenstern hervorschrien und die Partei unten nach ihrem kurzen Sieg zu einem für diese Höhe
    wenigstens gänzlichen Verstummen brachten.
    »Wie gefällt es dir, Kleiner?« fragte Brunelda, die sich eng hinter Karl hin- und herdrehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu übersehen. Karl antwortete nur durch Kopfnicken.
    Nebenbei bemerkte er, wie Robinson dem Delamarche eifrig
    verschiedene Mitteilungen offenbar über Karls Verhalten machte, denen aber Delamarche keine Bedeutung beizumessen schien, denn er suchte Robinson mit der Linken, mit der Rechten hatte er Brunelda umfaßt, immerfort beiseite zu schieben. »Willst du nicht durch den Gucker schauen?« fragte Brunelda und klopfte auf Karls Brust, um zu zeigen, daß sie ihn meine.
    »Ich sehe genug«, sagte Karl.
    »Versuch es doch«, sagte sie »du wirst besser sehen.«
    »Ich habe gute Augen«, antwortete Karl »ich sehe al es.« Er empfand es nicht als Liebenswürdigkeit, sondern als Störung, als sie den Gucker seinen Augen näherte, und tatsächlich sagte sie nun nichts als das eine Wort »Du!«, melodisch, aber drohend.
    Und schon hatte Karl den Gucker an seinen Augen und sah nun tatsächlich nichts.
    »Ich sehe ja nichts«, sagte er und wollte den Gucker
    loswerden, aber den Gucker hielt sie fest, und den auf ihrer Brust eingebetteten Kopf konnte er weder zurück noch seitwärts schieben.
    »Jetzt siehst du aber schon«, sagte sie und drehte an der Schraube des Guckers.
    »Nein, ich sehe noch immer nichts«, sagte Karl und dachte daran, daß er Robinson ohne seinen Willen nun tatsächlich entlastet habe, denn Bruneldas unerträgliche Launen wurden nun an ihm ausgelassen.
    »Wann wirst du denn endlich sehen?« sagte sie und drehte –
    Karl hatte nun sein ganzes Gesicht in ihrem schweren Atem –
    weiter an der Schraube. »Jetzt?« fragte sie.
    »Nein, nein, nein!« rief Karl, obwohl er nun tatsächlich, wenn auch nur sehr undeutlich, alles unterscheiden konnte. Aber gerade hatte Brunelda irgend etwas mit

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