Amnion 5: Heute sterben alle Götter
»Auf den ersten Blick hat Kapitän Alts Gegenwart im Sitzungssaal des Regierungskonzils mich außerordentlich befremdet«, erklärte er, »und das, obwohl ich durchaus mit gänzlich Unerwartetem gerechnet hatte. Von Direktorin Hannish wußte ich, daß Kapitän Vertigus einen neuen Anschlag befürchtete. Ich hielt seine Besorgnis für begründet. Zum großen Teil war es diese Einschätzung, die mich zur Teilnahme an der Sondersitzung bewogen hatte. Weil Kapitän Alts Anwesenheit so unvermutet war, ging ich zu ihm und erhoffte mir davon Aufschluß. Sobald ich nahe genug war, bereitete es mir keine Umstände, die Gefahr zu durchschauen, die er verkörperte. Erstens konnte ich den Augen und seinem Gesamtverhalten anmerken, daß er unter starkem Drogen- oder Medikamenteneinfluß stand. Zweitens sollte er nach den Legitimationen Id-Plakette und Dienstausweis – nicht der ehemalige VMKP-OA-Kapitänhauptmann Nathan Alt sein, sondern Clay Imposs, ein EKRK-Schutzdienst-Wachtmeister. Ich bin der festen Überzeugung« – nun verlegte sich Hashi auf einen falschen Schmeichelton –, »daß Sicherheitschef Mandich die gleichen Schlußfolgerungen wie ich gezogen hätte – und die gleichen Maßnahmen ergriffen –, wäre durch Zufall ihm die Gelegenheit geboten worden, Kapitän Alt zu erkennen.«
Nathan Alts Name war im VMKP-HQ durchaus geläufig. Allerdings hatte seine Aburteilung vor mehreren Jahren stattgefunden, vor Koina Hannishs Zeit. Dagegen mußte Sicherheitschef Mandich als OA-Mitarbeiter mit persönlichem Interesse an der Reputation der OA sich nahezu mit Bestimmtheit gut genug des Ex-Kapitänhauptmanns entsinnen, um ihn identifizieren zu können.
Auch die Weise, wie Hashi Lebwohl nun die Hände spreizte, zeichnete sich durch ein gewisses unehrliches Schauspielergehabe aus.
»Bis jetzt ist alles ohne größere Mühe einsichtig. In Bezug auf diesen Vorfall bleibt nur noch zu ergänzen, daß ich es, bevor Sicherheitschef Mandichs Mitarbeiter den angeblichen Clay Imposs aus dem Sitzungssaal beförderten und dadurch eine wahrscheinlich hohe Zahl von Menschenleben retteten, geschafft habe, ihm den Dienstausweis von der Uniform und die Id-Plakette vom Hals zu reißen…«
Nun endlich zeigte Warden Dios eine Reaktion, die auf Überraschung beruhen mochte: Er sperrte ein wenig das Auge auf und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Na und?« fragte Sicherheitschef Mandich ungeduldig. »Die Id-Plakette und der Dienstausweis sind für uns doch keine Hilfe. Ich bezweifle nicht, daß Sie recht haben, was Nathan Alt angeht, und daß seine Legitimationen die Daten Clay Imposs’ enthalten. Andernfalls wäre er sofort entdeckt worden. Und ich bin mir auch sicher, daß sie gefälscht worden sind, denn sonst wäre er spätestens beim Retinae-Scanning aufgeflogen. Aber selbst wenn Sie herausfinden, wie die Fälschung gemacht wurde, können Sie niemals nachweisen, wer sie begangen hat. Also werden die Plakette und der Dienstausweis höchstens bestätigen, was wir schon wissen, daß nämlich der Urheber der Attentate genaue Kenntnis der jeweils gültigen Codes hat.«
»Sie haben sich einem gräßlichen Risiko ausgesetzt, Direktor Lebwohl«, meinte Koina Hannish leise. »Sie hätten getötet werden können. Was haben Sie sich davon erhofft?«
Hashi hörte weder ihr zu, noch Mandich. »Seit meinem Abflug von Suka Bator«, sagte er zu Warden Dios, »bemüht die Abteilung Datenakquisition sich beharrlich um die Erfüllung ihrer Aufgaben. Mit der Erledigung der technischen Seiten der Untersuchungen habe ich Lane Harbinger betraut, die dafür die glänzendste Befähigung mitbringt. Ferner habe ich in der eingetretenen Situation eine Veranlassung gesehen, um verschiedenerlei Datenübertragungswege mit Priorität-Rot-Modifikationssperren abzusichern, weil ich unterstelle, daß wahrscheinlich nur dann die Richtigkeit der Informationen, die wir durch sie erhalten, garantiert bleibt.« Rasch zählte er die jetzt mit dem sogenannten Knallrot-Verbot belegten Orte auf. »Überdies habe ich mir von der Datenverwaltung vorläufige Dossierdateien über Nathan Alt und Clay Imposs zuleiten lassen…«
»Weiter«, murmelte Warden Dios wie jemand, den nichts mehr erschüttern konnte.
Hashi Lebwohl indessen bedurfte keiner Ermunterung zum Fortsetzen des Berichts; er hatte nicht im geringsten vor, nun in Schweigen zu verfallen.
»Mit dem verschwundenen Imposs brauchen wir uns nicht umfänglich zu befassen«, stellte er fest. »Seine Personalakte ist
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