Amnion 5: Heute sterben alle Götter
es war ihr alles zutiefst zuwider. Zu viele Leute hatten ihr zuviel zugemutet; zuviel von ihr verlangt.
Der Augenblick der Entscheidung war da.
»Angus, hör zu.« Ihre Stimme durchschnitt die Luft wie eine Klinge. »Hör mir genau zu, ich bin es jetzt nämlich endgültig mit dir satt.«
Im Takt mit ihrem Herzrhythmus schlug sie den Gußverband etliche Male auf die Kante der Kommandokonsole, so daß schmerzhafte Stiche durch ihren Arm fuhren, als ob sich Glassplitter hineinbohrten.
»Das war Min Donner, auf die du geschossen hast. Seit wir an Bord sind, hat sie sich uns gegenüber immer ehrlich verhalten. Sie hat uns die Wahrheit gesagt. Sie hält ihr Wort. Obwohl sie so gut wie du weiß, daß es falsch ist, hat sie mir das Kommando belassen. Du dagegen bist ein Mörder und Vergewaltiger, und obendrein verschacherst du Menschen an die Amnion! Ich dulde nicht, daß du noch mehr Verderben anrichtest. Ist das klar?«
Mit aller Kraft hieb sie den Gußverband wuchtig genug aufs Kommandopult, um ihn zu zerbrechen.
Heftiger Schmerz nötigte sie zum Einhalten. Zunächst spürte sie nicht, ob die erst zum Teil verheilten Armknochen heil geblieben waren; aber es scherte sie ohnedies nicht. Mit der gesunden Hand klaubte sie Brocken zersprungener Acrylmasse vom Arm und warf sie der Reihe nach Angus ins Gesicht: wie Anschuldigungen mit scharfen Rändern, harte Forderungen, Drohungen. Aber als sie die letzten Reste des Gußverbands abgelöst hatte, merkte sie, daß sie Ellbogen und Finger ohne größere Beschwerden beugen konnte.
Angus zuckte kein einziges Mal, wenn die Bruchstücke ihn trafen; bemühte sich nicht, ihnen auszuweichen. Falls er zwinkerte, um seine Augen zu schützen, sah Morn es nicht. Anstatt irgend etwas zu tun, stand er ihr gegenüber wie jemand, der keine Furcht mehr kannte. Oder vielleicht saß seine Furcht inzwischen so tief, daß sie ihm vollkommene Festigkeit verlieh. Er wartete, bis sie mit dem Werfen aufgehört hatte, bevor er sich mit der Hand über die infolge der Treffer geröteten Wangen und die Stirn strich.
»Ich habe sie nicht geschlagen«, murrte er schwerfällig. »Begreifst du’s nicht? Ich hätte ihr den Schädel eindreschen können.«
Seine Worte klangen, als wiederholte er ein früheres Zureden. Weil ich euch hätte aufhalten können. Nur habe ich’s nicht getan. Und ich habe mich nach der Vereinbarung gerichtet. »Doch, ich hab’s begriffen!« fuhr Morn ihn heftig an. »Ich hab’s kapiert, verflucht noch mal. Warden Dios hat die Restriktionen aufgehoben. Du kannst jetzt auch gegen VMKP-Personal aktiv werden. Wieder herfallen, über wen du willst. Aber du hast meine Fragen nicht beantwortet. Ich bin es leid. Du rückst nun mit der Sprache raus. Oder ich sage Davies, er soll dich auf der Stelle erschießen.«
Es mochte sein, daß Davies ihr Verhalten nicht nachvollziehen konnte; trotzdem kannte er kein Zaudern. Behend ging er von Angus auf Abstand – verließ seine Reichweite – und zielte mit der Pistole auf seinen Vater. Geradeso wie bei Morn glichen seine Augen Schreien der Panik und Entschiedenheit.
Dennoch blieb Angus unbeeindruckt. Immerzu verkrampften und lockerten sich die Muskeln seiner Kiefer.
»Wir hauen Dios heraus«, meinte er zu Morn. »Ich habe doch gesagt, ich weiß, wie man’s schaffen kann. Entspricht das nicht deinem Wunsch?«
Damit verblüffte er sie so, daß ihre Wut in Sekundenschnelle verflog. Sie hatte in diesen oder jenen Augenblicken klarer gesehen, jedoch über ihn nicht die ganze Wahrheit begriffen; hatte nicht weit genug gedacht, um zu verstehen, welche Wandlungen die geschenkweise Rückgabe der Macht, Unheil anzurichten oder darauf zu verzichten, bei ihm ausgelöst hatte.
»Hast du etwa gedacht, Dios rede Unsinn, als er mit mir gesprochen hat?« fragte er. »Mich nur spaßeshalber zum Zusammenklappen gebracht hat, um zu zeigen, daß er zu so was fähig ist? Du weißt es doch wohl besser. Du kennst ihn besser… Ihm stehen Codes zur Verfügung, von denen er mir nichts erzählt hat. Er kennt Befehle, die ich nicht mißachten kann. Aber er hat mir die Freiheit zurückgegeben.«
In Angus’ rauher Stimme klang Aufregung an. »Sobald er das Wort ›Apotheosis‹ aussprach, haben sich mir sämtliche Datenspeicher meines verdammten Interncomputers zugeschaltet. Die Mehrzahl ist eigentlich nur für Notfälle bestimmt. Ohne daß meine Programmierung erkannte, daß ich die Informationen brauche, konnte ich darauf nicht zugreifen. Aber jetzt ist alles
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