An einem Tag wie diesem
ging bei Rot über die Straße, um der Frau zu entkommen.
Er ärgerte sich, dass er immer wieder angesprochen wurde. Es war ihm, als durchschauten die Türsteherinnen seine Tarnung, als wüssten sie etwas von ihm, das ihm selbst verborgen war. Hinter den Kulissen, hinter den undurchsichtigen Türen der Sexclubs und Bars und Erotikmärkte musste es ein hartes, schmutziges Leben geben. Der Gedanke, dass dieses Leben wirklicher sein könnte als sein eigenes, beunruhigte ihn. Er war in all den Jahren nie in einem der Lokale gewesen.
Am Sonntagmorgen schlief er lange. Er frühstückte im Café, las die Zeitung und hörte mit, wie sich am Nachbartisch ein junges deutsches Paar über den weiteren Verlauf des Tages stritt. Sie wollte in den Louvre, er nicht. Als sie ihn fragte, was er denn machen wolle, konnte er es nicht sagen.
Gegen Mittag war Andreas wieder zu Hause. Er korrigierte eine Klassenarbeit, dann blätterte er durch zwei Büchlein, die er am Freitag in der deutschen Buchhandlung gekauft hatte. Sie waren in einer Reihe von Unterrichtstexten erschienen, die er manchmal mit den fortgeschrittenen Schülern las, kurze Kriminalgeschichten über Kunsträuber oder Schmugglerbanden mit einfachem Vokabular, sechs-, zwölf- oder achtzehnhundert Vokabeln, mit denen sich eine ganze Welt beschreiben ließ. Andreas mochte diese Geschichten, obwohl sie entsetzlich banal und berechenbar waren.
Das erste Bändchen legte er schnell weg. Es ging um Ökoterrorismus, ein Thema, das ihn deprimierte und
das ihm für seine Schüler ungeeignet schien. Das zweite hieß »Liebe ohne Grenzen«. Auf dem Umschlag war eine Federzeichnung, die ihn an den Stil der sechziger Jahre erinnerte und seltsam berührte: Eine junge Frau und ein junger Mann saßen in einem Straßencafé unter großen Bäumen und lächelten sich an. Andreas las den Klappentext. Die Geschichte handelte von Angélique, einer jungen Pariserin, die eine Stelle als Au-pair-Mädchen in Deutschland annimmt und sich in Jens verliebt, einen Studenten der Meeresbiologie. Die Gastfamilie wohnt in Rendsburg, nahe der dänischen Grenze. Vor vielen Jahren hatte Andreas dort eine Tagung über skandinavische Literatur besucht. Er hatte die Stadt gemocht, obwohl es die ganze Zeit regnete und er kaum etwas von der Gegend sah.
Er las mit den Kindern nicht gern Liebesgeschichten. Bei jedem Kuss gab es Gekicher und Getuschel und dumme Bemerkungen. Aber er hatte sich als Jugendlicher selbst in ein Au-pair-Mädchen verliebt. Irgendwo begann er zu lesen.
Ich konnte mich nicht auf den Verkehr konzentrieren. Ich musste sie immer wieder ansehen. Der Volkswagen roch nach ihr, nach Sommer, Sonne und Blumenfeldern.
Andreas dachte an Fabienne und wie er mit ihr und Manuel zum Baden gefahren war an einen Weiher. Mit Manuel hatte er das Gymnasium besucht, und während des Studiums trafen sie sich manchmal im Zug. Andreas studierte Germanistik und Romanistik, Manuel machte eine Ausbildung als Sportlehrer. Er
hatte einen 2 CV , eine alte Kiste, an der ständig etwas kaputt war.
Mit Fabienne verband Andreas eine Liebesgeschichte, die keine gewesen war. Er hatte sie geliebt, über ihre Gefühle war er sich nie klar geworden. Einen Sommer lang hatten sie sich fast täglich gesehen, hatten viel Zeit miteinander verbracht, aber er hatte sich nie getraut, ihr seine Liebe zu gestehen, und Fabienne schien nicht auf ein solches Geständnis zu warten. Als er schon in Paris lebte, schrieb er ihr einen Brief, in dem er endlich über seine Gefühle sprach und den er nie abschickte.
Andreas hatte lange nicht an Fabienne oder Manuel gedacht. Seit Ewigkeiten hatte er nichts von ihnen gehört. Er erinnerte sich vage an eine Geburtsanzeige, ein nichts sagendes Babygesicht, dazu Gewicht und Größe des Neugeborenen, als sei damit etwas gesagt. Vermutlich hatte er gratuliert, vielleicht ein Geschenk geschickt, er wusste es nicht mehr. Bei der Beerdigung seines Vaters hatte er die beiden kurz gesehen, seither nicht wieder.
Er blätterte ein paar Seiten weiter.
Ich nahm ihre Hand und küsste sie. Ein wenig später lagen wir nebeneinander am Kanal.
»Du bist ein merkwürdiger Mensch. Wie soll ich dich verstehen?«
»Du sollst mich gar nicht verstehen, Schmetterling«, gab ich zurück und sah sie an. »Ich verstehe mich ja selber nicht. Oft weiß ich nicht einmal genau, was ich will, siehst du.«
»Schade«, sagte sie leise. »Es wäre jetzt sehr hübsch, wenn du wüsstest, was ich gern möchte.«
In den nächsten
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