ANDERSENS MÄRCHEN ((Sämtliche Werke)) (German Edition)
Der reiche Schuhmacher in der Stadt nahm Maß an ihrem kleinen Fuß. Das geschah in seinem Laden, wo große Glasschränke mit niedlichen Schuhen und blanken Stiefeln standen. Das sah gar hübsch aus, aber die alte Dame konnte nicht gut sehen und hatte daher auch keine Freude daran. Mitten zwischen den Schuhen standen ein paar rote, ganz wie die,
welche die Prinzessin getragen hatte. Wie schön sie waren! Der Schuhmacher sagte auch, daß sie für ein Grafenkind genäht worden seien, aber sie hätten nicht gepaßt.
"Das ist wohl Glanzleder" sagte die alte Dame, "sie glänzen so."
"Ja, sie glänzen!" sagte Karen, und sie paßten gerade und wurden gekauft. Aber die alte Dame wußte nichts davon, daß sie rot waren, denn sie hätte Karen niemals erlaubt, in roten Schuhen zur Einsegnung zu gehen, aber das geschah nun also.
Alle Menschen sahen auf ihre Füße, und als sie durch die Kirche und zur Chortür hinein schritt, kam es ihr vor, als ob selbst die alten Bilder auf den Grabsteinen, die Steinbilder der Pfarrer und Pfarreresfrauen mit steifen Kragen und langen schwarzen Kleidern, die Augen auf ihre roten Schuhe hefteten, und nur an diese dachte sie, als der Pfarrer seine Hand auf ihr Haupt legte und von der heiligen Taufe sprach und von dem Bunde mit Gott, und daß sie nun eine erwachsene Christin sein sollte. Und die Orgel spielte so feierlich, die hellen Kinderstimmen sangen und der alte Kantor sang, aber Karen dachte nur an die roten Schuhe.
Am Nachmittag hörte die alte Dame von allen Leuten, daß die Schuhe rot gewesen wären, und sie sagte das wäre recht häßlich und unschicklich, und Karen müsse von jetzt ab stets mit schwarzen Schuhen zur Kirche gehen, selbst wenn sie alt wären.
Am nächsten Sonntag war Abendmahl, und Karen sah die schwarzen Schuhe an, dann die roten, - und dann sah sie die roten wieder an und zog sie an.
Es war herrlicher Sonnenschein; Karen und die alte Dame gingen einen Weg durch das Kornfeld; da stäubte es ein wenig.
An der Kirchentür stand ein alter Soldat mit einem Krückstock und einem gewaltig langen Barte, der war mehr rot als weiß, er war sogar fuchsrot. Er verbeugte sich tief bis zur Erde und fragte die alte Dame, ob er ihre Schuhe abstäuben dürfe. Und Karen streckte ihren kleinen Fuß auch aus. "Sieh, was für hübsche Tanzschuhe" sagte der Soldat, "sitzt fest, wenn Ihr tanzt." Und dann schlug er mit der Hand auf die Sohlen.
Die alte Dame gab dem Soldaten einen Schilling, und dann ging sie mit Karen in die Kirche.
Alle Menschen drinnen blickten auf Karens rote Schuhe, und alle Bilder blickten darauf, und als Karen vor dem Altar kniete und den goldenen Kelch an ihre Lippen setzte, dachte sie nur an die roten Schuhe. Es war ihr, als ob sie selbst in dem Kelche vor ihr schwämmen; und sie vergaß, den Choral mitzusingen und vergaß, ihr Vaterunser zu beten.
Nun gingen alle Leute aus der Kirche, und die alte Dame stieg in ihren Wagen. Karen hob den Fuß, um hinterher zu steigen; da sagte der alte Soldat, der dicht dabei stand: "Sieh, was für schöne Tanzschuhe." Und Karen konnte es nicht lassen, sie mußte ein paar Tanzschritte machen!" Und als sie angefangen hatte, tanzten die Beine weiter; es war gerade, als hätten die Schuhe Macht über sie bekommen; sie tanzte um die Kirchenecke herum und konnte nicht wieder aufhören damit; der Kutscher mußte hinterher laufen und sie festhalten. Er hob sie in den Wagen; aber die Füße tanzten weiter, so daß sie die gute alte Dame heftig trat.
Endlich zogen sie ihr die Schuhe ab, und die Beine kamen zur Ruhe.
Daheim wurden die Schuhe in den Schrank gesetzt, aber Karen konnte sich nicht enthalten, sie immer von neuem anzusehen.
Nun wurde die alte Frau krank, und es hieß, daß sie nicht mehr lange zu leben hätte. Sie sollte sorgsam gepflegt und gewartet werden, und niemand stand ihr ja näher als Karen. Aber in der Stadt war ein großer Ball und Karen war auch dazu eingeladen. Sie schaute die alte Frau an, die ja doch nicht wieder gesund wurde, sie schaute auf die roten Schuhe, und das schien ihr keine Sünde zu sein. - Da zog sie die roten Schuhe an - das konnte sie wohl auch ruhig tun! - aber dann ging sie auf den Ball und fing an zu tanzen.
Doch als sie nach rechts wollte, tanzten die Schuhe nach links, und als sie den Saal hinauf tanzen wollte, tanzten die Schuhe hinunter, die Treppe hinab, über den Hof durch das Tor aus der Stadt hinaus. Tanzen tat sie, und
Weitere Kostenlose Bücher