Anidas Prophezeiung
Albis Spur noch finden werde. Außerdem bin ich selbst auf der Suche nach jemanden, und das ist überaus wichtig für mich. Ihr, Vater und du, solltet euch damit abfinden, dass Albi fort ist. Er war nie glücklich hier, das weißt du.«
Ysabet nickte traurig. »Es ist ja auch nicht so, dass es hier nicht ohne ihn ginge. Amalis Mann, der liebe Eiliko, kümmert sich um alles. Er ist inzwischen wie ein Sohn für Joris. Und dennoch ...« Sie verstummte.
Ida tätschelte ihre Schulter. »Ich gehe zu Ugo«, versprach sie. »Aber vorher würde ich gerne ein wenig durch den Garten spazieren. Ich war so elend lange fort, und wer weiß, ob ich all das hier jemals wieder sehen werde.« Ihre Stimme klang bitter, und ihre Tante sah sie hilflos an.
»Geh nur, Kind. Und, Ida«, sie hob energisch das Kinn, »solange ich lebe, wirst du hier immer willkommen sein. Und wenn dein Vater deswegen platzt!«
Ida musste wider Willen lächeln. Sie beugte sich zu ihrer Tante hinunter und küsste sie auf die weiche Wange. »Danke, Tante Ysa«, sagte sie sanft. »Das bedeutet mir sehr viel.« Ysabet nickte nur und schickte sie mit einem Klaps hinaus. Als Ida die Küchentür hinter sich schloss, hörte sie ihre Tante schon wieder mit der Magd zanken, weil sie vergessen hatte, das letzte Blech mit Wecken rechtzeitig aus dem Ofen zu nehmen.
Ida ging langsam durch den alten Obstgarten und atmete tief den betäubenden Duft all der reifenden Früchte ein. Das hier war für sie der Geruch des Sommers. In Nortenne roch es im Sommer nach Tang und heißem Staub, nach Fisch und Salz und Teer. Sie hatte sich mit den Jahren daran gewöhnt, dennoch vermisste sie jedes Jahr aufs Neue die grüne Pracht, die Sendra ihrer Nase und ihren Augen zu bieten hatte. Sie setzte sich auf die alte, zerfallende Mauer des Gartens und schloss die Augen. Was auch immer letztlich Albuin bewogen haben mochte, seine Heimat zu verlassen, sie wusste, dass keine Macht der Welt ihn zurückbringen würde. Er hatte sich entschieden, und sein Schädel war nicht weniger hart als der ihre. Aber vielleicht, wenn sie ihn denn finden sollte, konnte sie ihn dazu bewegen, ihren Vater wenigstens noch einmal zu besuchen. Ob Joris wohl seinen Sohn ebenso harsch zurückweisen würde, wie er es mit ihr getan hatte? Ida seufzte.
»Was machst du für ein aschiges Gesicht an so einem schönen Tag?«, fragte eine helle Stimme. Schwacher Brandgeruch drang in Idas Nase. Sie schlug erschreckt die Augen auf und blickte sich um. Fiamma Feuerdorn hockte neben ihr auf der Mauer, die Füße ordentlich nebeneinandergestellt und die Hände sittsam im Schoß gefaltet. Ida starrte sie ungläubig an.
»Du siehst noch ganz genauso aus wie vor zehn Jahren«, sagte sie beinahe vorwurfsvoll. Fiamma kicherte und legte den Kopf schief.
»Du nicht«, entgegnete sie. »Ihr Menschen verändert euch aber wirklich schnell. Bist du jetzt schon richtig alt?«
Ida lachte. »Nein, noch nicht ganz, auch wenn ich mich manchmal so fühle.« Sie sah auf die winzige Feuerelfe hinunter. »Wie ist es dir ergangen, Fi? Warst du die ganze Zeit über hier?«
Fiamma sah sie verständnislos aus ihren riesigen, flammenfarbenen Augen an. »Was meinst du damit, ›die ganze Zeit‹? Ich bin doch immer hier, wo hätte ich denn sonst sein sollen? Du warst ein paar Tage weg, nicht? Hast du deine andere Tante besucht?«
Jetzt war es Ida, die verständnislos dreinsah. »Fi, ich war ganze zehn Jahre von hier fort. Das musst du doch bemerkt haben.«
Fiamma blinzelte nur ein wenig verdutzt. »Schau mal, was ich inzwischen gelernt habe«, sagte sie so eifrig und sprunghaft wie immer. Sie schloss die Augen und holte tief Luft, dass ihre kleine Brust sich aufblähte. Die Luft schien sich zu erhitzen und begann zu flimmern. Fiammas Umrisse verschwammen und dehnten sich aus. Ida sah gebannt zu, wie die Feuerelfe in die Höhe schoss. Ein lautes Schnaufen verriet, dass sie die angestaute Luft aus ihren Lungen entließ. Die zitternde, wabernde Luft beruhigte sich. Eine zierliche kleine Frau saß neben Ida und strahlte sie aus lohfarbenen Augen an.
»Fiamma«, stotterte Ida verblüfft. »Wie geht das, wie hast du das gemacht?«
Die Elfe wedelte unbestimmt mit der Hand und blies die Backen auf. »Oh, das können doch alle«, antwortete sie. »Aber schau mal, du kannst mich jetzt sogar anfassen. Ich bin ganz kalt!«
Ida streckte vorsichtig die Hand aus und berührte Fiamma am Handgelenk. Es stimmte, die Feuerelfe hatte nahezu menschliche Temperatur.
Weitere Kostenlose Bücher