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Anidas Prophezeiung

Anidas Prophezeiung

Titel: Anidas Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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dass du fortgelaufen bist. Er war sehr traurig und sehr besorgt um dich – und sehr, sehr wütend.« Sie lächelte schwach. »Er hat sich davon erholt, obwohl ich mir eine Zeitlang große Sorgen um ihn gemacht habe. Aber er weigerte sich, dir eine Nachricht zu schicken, dass er dir vergibt, obwohl ich sicher bin, dass er es schließlich noch getan hätte.« Sie stockte, und ihr Gesicht verzog sich ein wenig. »Dann, als wir alle dachten, es wäre ausgestanden, und das Leben hier endlich wieder begann, seinen ruhigen, geregelten Gang zu gehen, verschwand dein Bruder.«
    Ida tat einen entsetzten Ausruf. Ysabet hob eine mollige Hand und erzählte auf ihre schwerfällige Art weiter: »Er war rücksichtsvoller als du, denn er hinterließ uns zumindest eine Nachricht. Er schrieb, Magister Ugo sei nicht mehr in der Lage, ihn etwas Neues zu lehren. Er habe einen neuen Meister gefunden, dem er nun folgen werde, damit er in seinen Studien weiterkomme. Kein Wort davon, dass es ihm leid tut, deinen Vater so zu verletzen, nichts davon, mit wem er fortgeht und wohin, und ob er überhaupt vorhat, jemals wiederzukommen. Nein, nur die dürre Nachricht, dass er Sendra verlässt. Wir haben natürlich diesen Hexer befragt, aber der schien genauso überrascht zu sein wie wir.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Obwohl ich sagen muss, ich glaube, dass dieser graue Uhu uns nicht alles gesagt hat, was er weiß. Diese Zauberer sind ein verschlagenes, hinterhältiges Volk.«
    »Habt ihr Tante Ylenia um Hilfe gebeten?«, fragte Ida ruhig. Ysabet hob in einer resignierten Geste die Hände und ließ sie kraftlos wieder in den Schoß sinken.
    »Natürlich haben wir das. Ach, Kind, was wir nicht alles getan haben! Dein Vater war außer sich. Sein Erbe, sein einziger geliebter Sohn! Er war wochenlang wie von Sinnen. Deshalb ist das Unglück auch nur passiert, da bin ich mir ganz sicher ...« Sie brach in Tränen aus. Ida war es eiskalt geworden vor Schreck. Sanft nahm sie die Hände ihrer Tante in die ihren.
    »Was ist passiert, Tante Ysa?«, fragte sie leise.
    Ysabet sah sie aus schwimmenden Augen an und kämpfte um ihre Fassung. »Dein Vater ist ausgeritten zur Jagd. Du weißt, wie leidenschaftlich er immer gejagt hat, es war ja beinahe das Einzige, was ihm immer Freude gemacht hat, ganz gleich, welcher Kummer ihn bedrückte. Er ritt früh aus und nahm nur einige Knechte mit.« Sie schniefte jämmerlich und wischte sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. »Sie brachten ihn mittags zurück. Sein Pferd war nach einem Sprung über ein Hindernis böse gestürzt. Das war vor fünf Jahren. Er hat seitdem das Bett nicht mehr verlassen können, sein Rücken und seine Beine ...« Ihre Stimme versagte, und sie schlug die Hände vor das Gesicht.
    Ida nahm sie in die Arme und wiegte sie, wie Ysabet sie als Kind gewiegt hatte. »Warum hast du mir nicht geschrieben? Ich wäre doch sofort zurückgekommen, wenn ich davon gewusst hätte.«
    Ysabet putzte sich die Nase. »Joris wollte es nicht«, gab sie zu. »Er sagte, seine Kinder hätten entschieden, ihn zu verlassen, und das wäre nicht mehr zu ändern. Du weißt doch, wie starrköpfig er sein kann, Kind. Du bist doch ganz genauso.« Sie seufzte und sah nach unten, um Idas vorwurfsvollem Blick zu entgehen. »Die Kinder deiner Schwester haben ihm sehr viel Freude bereitet«, setzte sie gedankenverloren hinzu. »Ich glaube, seine Enkel sind jetzt das Einzige, was ihn noch am Leben hält.« Sie putzte sich energisch die Nase und stand auf. »Komm jetzt, Ida. Bring deinem Vater sein Frühstück.«

    Ida stand einige Atemzüge lang vor der geschlossenen Tür zum Zimmer ihres Vaters. Sie hielt das Tablett mit Tee und frischem Backwerk in den Händen und spürte, wie sie leise bebten. Dann schloss sie die Augen, sandte ein Stoßgebet zu den Schöpfern und verlagerte das Tablett auf eine Hand, um anzuklopfen.
    »Ja doch, herein«, erklang es brummig von drinnen. »Mach doch nicht immer so ein Getue, Ysabet.«
    Ida drückte die Tür mit dem Fuß auf und schob sich mit dem Tablett hindurch. Joris lehnte aufrecht mit etlichen Kissen im Rücken in seinem Bett und blickte aus dem Fenster. Ida blieb einen Moment lang stehen und sah ihn an. Sein schütteres Haar leuchtete weiß in der Sonne. Die ehemals so breiten und starken Schultern hatten sich kraftlos gerundet, und die Umrisse seiner nutzlos gewordenen Beine zeichneten sich wie ein Paar dürrer Stöcke unter der Decke ab und bildeten einen grotesken Gegensatz zu

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