Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
reichen?«
»Es läßt sich vorher nicht sagen; jedenfalls werde ich es einzurichten suchen«, erwiderte Matwei, schlug den Kutschenschlag zu und trat auf die Stufen vorm Haustor zurück.
Darja Alexandrowna hatte unterdessen das Kind beruhigt, und als sie an dem Geräusche des Wagens merkte, daß ihr Mann weggefahren sei, kehrte sie in das Schlafzimmer zurück. Dies war immer ihre Zuflucht vor den häuslichen Sorgen; sobald sie diese Zuflucht verließ, stürmten die Sorgen stets wieder von allen Seiten auf sie ein. Auch jetzt, während sie die paar Minuten im Kinderzimmer gewesen war, hatten die Engländerin und Matrona Filimonowna die Gelegenheit benutzt, um ihr verschiedene Fragen vorzulegen, die keinen Aufschub duldeten und die sie allein entscheiden konnte: Was die Kinder zum Spaziergang anziehen sollten. Ob sie Milch bekommen sollten. Ob ein anderer Koch zur Aushilfe angenommen werden solle.
»Ach, laßt mich, laßt mich!« antwortete sie, kehrte in das Schlafzimmer zurück und setzte sich auf denselben Platz, auf dem sie mit ihrem Manne gesprochen hatte; sie preßte die abgemagerten Hände zusammen, an denen ihr die Ringe von den knochigen Fingern zu gleiten drohten, und ging in der Erinnerung das ganze vorhergehende Gespräch noch einmal durch. ›Er ist weggefahren! Aber wie mag er sich mit dieser Person auseinandergesetzt haben?‹ dachte sie. ›Ob er sie wohl noch besucht? Warum habe ich ihn nicht danach gefragt? Nein, nein, eine Aussöhnung ist unmöglich. Und selbst wenn wir in demselben Hause bleiben, so werden wir doch einander fremd sein. Fremd für immer!‹ Auf dieses ihr so furchtbare Wort kam sie immer wieder mit besonderem Nachdruck zurück. ›Und wie habe ich ihn geliebt, o mein Gott, wie habe ich ihn geliebt, wie habe ich ihn geliebt! – Und liebe ich ihn denn nicht auch jetzt noch? Liebe ich ihn nicht noch mehr als früher? Das Schrecklichste ist ...‹ Aber sie beendete diesen angefangenen Gedanken nicht, da Matrona Filimonowna durch die Tür hereinblickte.
»Gestatten Sie doch, daß ich meinen Bruder holen lasse«, sagte sie. »Der kann das Mittagessen herrichten; sonst bekommen die Kinder wieder wie gestern bis sechs Uhr nichts zu essen.«
»Nun gut, ich komme gleich und werde alles, was nötig ist, anordnen. Ist nach frischer Milch ge schickt?«
Und Darja Alexandrowna versenkte sich in die Sorgen des Tages und betäubte dadurch für einige Zeit ihren Gram.
5
S tepan Arkadjewitsch hatte in der Schule dank seinen trefflichen Fähigkeiten gut gelernt, war aber träge und ausgelassen gewesen und infolgedessen bei der Entlassung in der Rangordnung einer der letzten geworden; aber trotz seinem allzeit lockeren Lebenswandel, trotz der Kürze seiner Dienstzeit und trotz seinem verhältnismäßig jugendlichen Lebensalter bekleidete er die angesehene, gut besoldete Stellung des Direktors einer Moskauer Verwaltungsbehörde. Diesen Posten hatte er durch Alexei Alexandrowitsch Karenin, den Gatten seiner Schwester Anna, erhalten, der eine der höchsten Stellen in dem Ministerium einnahm, dem jene Behörde unterstellt war. Aber auch wenn Karenin seinen Schwager nicht in diese Stelle gebracht hätte, so würde Stiwa Oblonski doch durch hundert andere Personen, durch Brüder, Schwestern, Vettern, Onkel und Tanten, diese oder eine andere, ähnliche Stelle mit etwa sechstausend Rubeln Gehalt bekommen haben; und eine solche Einnahme brauchte er recht nötig, da seine Geldverhältnisse trotz dem bedeutenden Vermögen seiner Frau sich in arger Zerrüttung befanden.
Halb Moskau und Petersburg war mit Stepan Arkadjewitsch verwandt oder befreundet. Er war mitten unter den Leuten geboren, die die Mächtigen dieser Welt waren oder wurden. Ein Drittel der hohen Regierungsbeamten, die älteren Männer, waren Freunde seines Vaters gewesen und hatten ihn noch im Kinderkleidchen gekannt; das zweite Drittel stand mit ihm auf du und du; und das dritte waren gute Bekannte. Somit waren die Verteiler irdischer Güter, als da sind Ämter, Pachtungen, Konzessionen und dergleichen, sämtlich mit ihm befreundet und konnten ihn als einen der Ihrigen nicht übergehen; und Oblonski brauchte sich nicht sonderlich zu bemühen, um eine einträgliche Stelle zu erhalten; er brauchte eine solche nur nicht auszuschlagen, sich nicht mißgünstig zu zeigen, sich mit niemandem zu überwerfen, sich nicht gekränkt zu fühlen, was er auch sowieso zufolge der ihm eigenen Gutmütigkeit niemals tat.
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