Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
Es wäre ihm lächerlich erschienen, wenn man ihm gesagt hätte, er würde keine Stelle mit einem Gehalte, wie er es brauchte, erlangen, um so mehr, da er nichts Außerordentliches beanspruchte; er wollte nur das, was seine Standesgenossen meist erlangten, und einen derartigen Posten konnte er ebensogut ausfüllen wie jeder andere.
     
    Stepan Arkadjewitsch war nicht nur bei allen, die ihn kannten, wegen seines gutmütigen, heiteren Charakters und seiner unzweifelhaften Ehrenhaftigkeit beliebt, sondern in seinem ganzen Wesen, in seiner schönen, glänzenden Erscheinung, den blitzenden Augen, den schwarzen Brauen und Haaren, dem frischen, gesunden Gesicht lag etwas, was schon durch die rein physische Wirkung alle, die mit ihm in Berührung kamen, für ihn einnahm und in eine fröhliche Stimmung versetzte. »Ah! Stiwa! Oblonski! Da ist er ja auch!« riefen fast immer die, die mit ihm zusammentrafen, mit vergnügtem Lächeln. Und wenn sie nach einem Gespräche mit ihm sich bewußt wurden, daß eigentlich nichts besonders Vergnügliches vorgekommen sei, so freuten sie sich doch am anderen und am dritten Tage alle wieder ganz ebenso bei einer Begegnung mit ihm.
     
    Schon mehr als zwei Jahre bekleidete Stepan Arkadjewitsch den Direktorposten bei der Moskauer Verwaltungsbehörde und hatte sich während dieser Zeit wie die Zuneigung so auch die Achtung seiner Kollegen, Untergebenen und Vorgesetzten und aller, die mit ihm zu tun hatten, erworben. Die Eigenschaften, die hauptsächlich dazu beitrugen, ihm diese allgemeine Achtung in dienstlicher Hinsicht zu verschaffen, waren erstens seine außerordentliche Leutseligkeit, die bei ihm auf dem Bewußtsein seiner eigenen Mängel beruhte; zweitens seine durchaus liberale, fortschrittliche Gesinnung, nicht die, die er sich aus den Zeitungen zu eigen machte, sondern die, die ihm im Blute steckte und infolge deren er alle Menschen, ohne jede Rücksicht auf ihren Stand und Beruf, völlig gleich und unparteiisch behandelte; drittens (und das war wohl die Hauptsache) seine vollständige Gemütsruhe gegenüber den Angelegenheiten, mit denen er sich zu beschäftigen hatte, so daß er sich niemals von Erregungen hinreißen ließ und keine Übereilungsfehler machte.
     
    Als Stepan Arkadjewitsch heute in seinem Wagen zu der Stätte seiner dienstlichen Tätigkeit gelangt war, begab er sich, begleitet von dem ehrerbietigen Pförtner, der ihm die Aktenmappe trug, in sein kleines Arbeitszimmer, zog die Uniform an und trat in den Sitzungssaal. Die Schreiber und Beamten erhoben sich sämtlich und verbeugten sich mit freundlicher, achtungsvoller Miene. Stepan Arkadjewitsch ging wie immer schnellen Schrittes zu seinem Platze, drückte den Räten die Hand und setzte sich. Er scherzte und plauderte ein wenig mit ihnen, gerade so viel, wie schicklich war, und nahm dann die Arbeit in Angriff. Niemand verstand es besser als Stepan Arkadjewitsch, jene Grenzlinie zwischen harmlosem, schlichtem Benehmen und dienstlicher Haltung zu finden, deren Innehaltung für eine angenehme Amtstätigkeit erforderlich ist. Freundlich und achtungsvoll, wie sich eben alle in Stepan Arkadjewitschs Amtsbereich benahmen, trat der Sekretär mit einigen Schriftstücken zu ihm heran und sagte in dem freien, ungezwungenen Tone, den Stepan Arkadjewitsch eingeführt hatte:
     
    »Wir haben doch noch von dem Gouvernement Pensa die Nachrichten erhalten. Hier, ist es Ihnen vielleicht gefällig ...«
     
    »Haben wir sie endlich bekommen?« erwiderte Stepan Arkadjewitsch und schob einen Finger in das Aktenstück vor ihm an der Stelle, wo er es nachher aufschlagen wollte. »Nun, meine Herren ...« Und die Sitzung begann.
     
    ›Wenn die wüßten‹, dachte er, während er mit bedeutsamer Miene beim Anhören eines Berichtes den Kopf zur Seite neigte, ›welch ein zerknirschter Sünder noch vor einer halben Stunde ihr Vorsitzender gewesen ist!‹ Seine Augen lachten während der Verlesung des Berichtes. Bis zwei Uhr mußte nach der bestehenden Ordnung die Arbeit ohne Unterbrechung fortgeführt werden; um zwei Uhr kam dann eine Frühstückspause.
     
    Es war noch nicht zwei Uhr, als die große Glastür des Sitzungssaales plötzlich geöffnet wurde und jemand hereinkam. Alle Beamten blickten, erfreut über eine kleine Ablenkung, zur Tür hin; aber der Türhüter, der dort seinen Posten hatte, wies den Eindringling sofort wieder hinaus und machte die Glastür hinter ihm wieder zu.
     
    Als die Verlesung des gerade vorliegenden

Weitere Kostenlose Bücher