Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
man, meinte er, wohl als Freund lieben; aber um mit einer solchen Liebe geliebt zu werden, wie er selbst sie für Kitty empfand, mußte man ein schöner und namentlich ein bedeutender Mann sein.
     
    Er hatte allerdings schon sagen hören, daß die Frauen oft auch zu unschönen, gewöhnlichen Männern Liebe empfänden; aber er glaubte das nicht, weil er nach seiner eigenen Person urteilte und selbst nur schöne, geheimnisvolle, ausgezeichnete Frauen lieben konnte.
     
    Nachdem er aber zwei Monate in der Einsamkeit auf dem Lande zugebracht hatte, gelangte er zu der Überzeugung, daß das, was er für Kitty empfand, denn doch von wesentlich anderer Art war als die Liebesregungen, die er in seiner ersten Jugendzeit durchgemacht hatte; daß dieses Gefühl ihm keine Minute Ruhe lasse; daß er nicht leben könne, wenn nicht die Frage entschieden werde, ob sie sein Weib werden wolle oder nicht; daß seine Verzweiflung nur aus allerlei willkürlichen Berechnungen entsprungen sei und daß er keinerlei Beweise dafür habe, daß er werde zurückgewiesen werden. So fuhr er denn diesmal nach Moskau mit dem festen Entschlusse, ihr seine Hand anzubieten und sie zu heiraten, wenn sie ihn möge. Andernfalls, – aber er vermochte sich gar nicht zu denken, was aus ihm werden sollte, wenn er abgewiesen würde.
     

7
     
    E r kam mit dem Morgenzuge in Moskau an und stieg bei seinem ältesten Bruder mütterlicherseits, Kosnüschew, ab. Nachdem er sich umgekleidet hatte, ging er zu ihm in sein Arbeitszimmer mit der Absicht, ihm sofort zu erzählen, zu welchem Zwecke er hergereist sei, und ihn um seinen Rat zu bitten; aber er fand seinen Bruder nicht allein. Bei ihm saß ein namhafter Professor der Philosophie, der von Charkow nach Moskau vornehmlich in der Absicht herübergekommen war, einen Zwiespalt der Anschauungen aufzuklären, der zwischen ihnen beiden in einer sehr wichtigen philosophischen Frage entstanden war. Der Professor nämlich hatte einen heftigen Kampf gegen die Materialisten geführt; Sergei Kosnüschew aber hatte diesen Kampf mit Interesse verfolgt und, nachdem er den letzten Artikel des Professors gelesen, ihm brieflich seine Einwendungen mitgeteilt; darin hatte er dem Professor den Vorwurf allzu wichtiger Zugeständnisse an die Materialisten gemacht. Und nun war der Professor sofort zu ihm gekommen, um sich mit ihm auszusprechen. Es handelte sich um die zeitgemäße Frage: Gibt es eine Grenze zwischen den psychischen und physiologischen Erscheinungen in der Lebenstätigkeit des Menschen, und wo liegt diese Grenze?
     
    Sergei Iwanowitsch begrüßte seinen Bruder mit dem freundlich-kühlen Lächeln, das ihm allen Leuten gegenüber zur Gewohnheit geworden war, machte ihn mit dem Professor bekannt und setzte dann das Gespräch mit diesem fort.
     
    Der Professor, ein kleines Männchen mit schmaler Stirn und mit einer Brille, hatte für einen Augenblick den Gegenstand des Gespräches verlassen, um den Ankömmling zu begrüßen, fuhr aber in seiner Darlegung fort, ohne Ljewin weiter zu beachten. Ljewin setzte sich hin und wollte warten, bis der Professor weg ginge; aber bald interessierte er sich für den Inhalt des Gespräches.
     
    Ljewin hatte mitunter in Zeitschriften Aufsätze über das Thema gefunden, das hier augenblicklich erörtert wurde, und hatte sie gelesen, weil sie ihn als ein weiterer Ausbau der ihm von seinen naturwissenschaftlichen Universitätsstudien her bekannten Grundgedanken der Naturwissenschaft interessierten; aber niemals hatte er diese wissenschaftlichen Darlegungen über die Entstehung des Menschen als eines körperlichen Wesens, über Reflexe, über Biologie und Soziologie in Verbindung gebracht mit der Frage nach der Bedeutung des Lebens und Todes für ihn selbst, einer Frage, die ihm in letzter Zeit immer häufiger durch den Kopf gegangen war.
     
    Während er dem Gespräche seines Bruders mit dem Professor zuhörte, machte er die Beobachtung, daß sie Fragen der objektiven Wissenschaft mit Fragen des subjektiven Seelenlebens in Verbindung brachten, mehrere Male an diese Fragen sogar ganz dicht herankamen, aber jedesmal, wenn sie sich dem, was ihm als der Kernpunkt erschien, genähert hatten, sich sofort wieder eilig davon entfernten und sich wieder tief in feine Unterscheidungen, Verklausulierungen, Zitate, Andeutungen und Hinweise auf Autoritäten versenkten; nur mit Mühe begriff er, worum es sich handelte.
     
    »Ich kann nicht zugeben«, sagte Sergei Iwanowitsch mit der ihm eigenen

Weitere Kostenlose Bücher