Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
geheiratet oder ohne die Liebe zu kennen. Das war ein Fehler, wie nicht zu leugnen ist.«
»Ein furchtbarer Fehler!« sagte Anna.
»Aber ich stelle fest: es ist eine vollendete Tatsache. Dann hast du, sagen wir einmal, das Unglück gehabt, dich in einen andern Mann zu verlieben. Das war ein Unglück; aber es ist gleichfalls eine vollendete Tatsache. Und dein Mann hat diese Tatsache als solche anerkannt und verziehen.« Er hielt nach jedem Satze inne, wie wenn er eine Erwiderung erwartete; aber sie antwortete nichts. »So steht es also. Jetzt ist nun die Frage: Kannst du weiter mit deinem Manne zusammen leben? Wünschst du das? Wünscht er es?«
»Ich weiß nichts; nichts weiß ich.«
»Aber du hast doch selbst gesagt, daß du ihn nicht ausstehen kannst.«
»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich widerrufe es. Ich weiß nichts und begreife nichts.«
»Ja, aber erlaube mal ...«
»Das kannst du nicht verstehen. Ich fühle, daß ich kopfüber in einen Abgrund hinabstürze, aber mich nicht retten darf. Und ich kann es auch nicht.«
»Nun, das ist nicht schlimm; wir halten ein Sprungtuch darunter und fangen dich darin auf. Ich verstehe dich; ich verstehe, daß du es nicht über dich gewinnen kannst, das, was du wünschst und empfindest, auszusprechen.«
»Ich wünsche nichts; nichts wünsche ich ..., nur daß alles bald zu Ende sein möchte.«
»Aber er sieht das und weiß das. Und meinst du etwa, daß er sich weniger dadurch bedrückt fühlt als du? Du marterst dich ab, und er martert sich ab; was kann dabei herauskommen? Und doch würde eine Scheidung alle Schwierigkeiten lösen«, schloß Stepan Arkadjewitsch; diesen Hauptgedanken brachte er nur mit einer gewissen Anstrengung heraus und blickte sie nun bedeutungsvoll an.
Sie antwortete nichts und schüttelte nur verneinend ihren kurzgeschorenen Kopf. Aber an dem Ausdruck ihres Gesichtes, das auf einmal wieder in seiner früheren Schönheit erglänzte, sah er, daß sie dies nur deshalb nicht zu wünschen gewagt hatte, weil es ihr als ein unerreichbares Glück erschienen war.
»Ihr tut mir furchtbar leid! Und wie glücklich würde ich sein, wenn es mir gelänge, diese Sache in Ordnung zu bringen!« sagte Stepan Arkadjewitsch und lächelte nun schon wesentlich kühner. »Sprich nicht, sage kein Wort! Möge mir Gott beistehen, damit ich alles so sagen kann, wie ich es empfinde. Ich will jetzt zu ihm gehen.«
Gedankenvoll und mit leuchtenden Augen blickte Anna ihn an; aber sie schwieg.
22
S tepan Arkadjewitsch trat in Alexei Alexandrowitschs Arbeitszimmer mit jener einigermaßen feierlichen Miene ein, mit der er im Sitzungssaale seines Amtes auf dem Stuhle des Vorsitzenden Platz zu nehmen pflegte. Alexei Alexandrowitsch ging, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, im Zimmer auf und ab und dachte über denselben Gegenstand nach, über den Stepan Arkadjewitsch soeben mit Anna gesprochen hatte.
»Ich störe dich doch nicht?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der beim Anblicke seines Schwagers ein ihm ungewohntes Gefühl der Verlegenheit verspürte. Um diese Verlegenheit zu verbergen, zog er ein eben erst gekauftes Zigarettenetui mit einem neuartigen Verschluß hervor, roch an dem Leder und nahm sich eine Zigarette heraus.
»Nein. Wünschst du etwas?« antwortete Alexei Alexandrowitsch wenig freundlich.
»Ja, ich möchte gern ... ich muß ... ja, ich muß ein paar Worte mit dir sprechen«, versetzte Stepan Arkadjewitsch, der sich zu seiner Verwunderung einer ihm sonst fremden Zaghaftigkeit bewußt wurde.
Dieses Gefühl war für ihn etwas so Unerwartetes und Sonderbares, daß ihm nicht der Gedanke kam, dies könne wohl die Stimme des Gewissens sein, die ihm sage, daß das, was er zu tun beabsichtige, schlecht sei. Stepan Arkadjewitsch nahm sich kräftig zusammen und überwand diesen Anfall von Schüchternheit.
»Ich darf wohl hoffen, daß du von meiner Liebe zu meiner Schwester und von meiner aufrichtigen Zuneigung und Verehrung dir gegenüber überzeugt bist«, sagte er errötend.
Alexei Alexandrowitsch blieb stehen und antwortete nicht; aber zu seiner Überraschung nahm Stepan Arkadjewitsch wahr, daß das Gesicht seines Schwagers den Ausdruck eines ergebungsvollen Opfertieres trug.
»Ich hatte die Absicht ... ich wollte gern mit dir über meine Schwester und über eure beiderseitige Lage sprechen«, fuhr Stepan Arkadjewitsch fort; er hatte immer noch mit jener ihm
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