Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
seine Worte, sondern auf seine Blicke voll heißer Liebe. Sie ergriff seine Hand und streichelte mit ihr ihre kalt gewordenen Wangen und das kurzgeschorene Haar.
»Ich erkenne dich kaum wieder mit diesem kurzen Haar. Du bist noch hübscher geworden, ein Knabe. Aber wie blaß du bist!«
»Ja, ich bin sehr schwach«, erwiderte sie lächelnd. Und ihre Lippen zitterten wieder.
»Wir reisen nach Italien; da wirst du dich schon erholen«, sagte er.
»Ist denn das möglich, daß wir wie Mann und Frau miteinander leben werden, wir beide allein als eine Familie?« sagte sie und blickte ihm aus nächster Nähe in die Augen.
»Mich hat nur gewundert, daß es jemals anders sein konnte.«
»Stiwa sagt, daß er (das war ihr Mann) in alles willigt; aber ich kann seine Großmut nicht annehmen«, sagte sie, indem sie nachdenklich an Wronskis Gesicht vorbeiblickte. »Ich will die Scheidung gar nicht; mir ist jetzt alles gleich. Ich weiß nur nicht, was er über Sergei beschließen wird.«
Es war ihm völlig unverständlich, wie sie in diesem Augenblick des Wiedersehens an ihren Sohn und an die Scheidung denken und davon reden konnte. War denn das jetzt nicht ganz gleichgültig?
»Sprich nicht davon, denke nicht daran«, bat er; er drehte ihre Hand in der seinigen hin und her und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; aber sie sah ihn noch immer nicht an.
»Ach, warum bin ich nicht gestorben; das wäre das beste gewesen!« sagte sie; die Tränen strömten ihr still, ohne Schluchzen, über beide Wangen. Aber sie gab sich Mühe zu lächeln, um ihn nicht zu kränken.
Eine Ablehnung der auszeichnenden Ernennung auf den gefährlichen Posten in Taschkent wäre nach Wronskis früheren Anschauungen ein schmähliches Benehmen und ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Jetzt aber trat er, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, zurück und nahm, als er bemerkte, daß dieser Schritt höheren Ortes mißbilligt wurde, sofort den Abschied.
Einen Monat darauf war Alexei Alexandrowitsch mit seinem Sohn allein in der Wohnung zurückgeblieben; Anna war mit Wronski ins Ausland gereist. Eine Scheidung der Ehe war nicht erfolgt; Anna hatte sie entschieden abgelehnt.
FÜNFTER TEIL
1
D ie Fürstin Schtscherbazkaja fand eigentlich, daß es ein Ding der Unmöglichkeit war, die Hochzeit noch vor den Fasten auszurichten, bis zu denen nur noch fünf Wochen Zeit blieb; bis zu diesem Zeitpunkt konnte kaum die Hälfte der Ausstattung fertiggestellt werden; aber sie mußte Ljewin darin recht geben, daß die Ansetzung auf die Zeit erst nach den Fasten sich leicht als eine allzu späte herausstellen konnte, da eine alte Tante des Fürsten Schtscherbazki schwerkrank war, möglicherweise bald starb und dann wegen der Trauer eine noch weitere Hinausschiebung der Hochzeit nötig werden würde. Die Fürstin willigte daher doch ein, daß die Hochzeit schon vor den Fasten gefeiert werden sollte, und entschloß sich, die Ausstattung in zwei Teile, einen größeren und einen kleineren, zu teilen. Und zwar wollte sie den kleineren Teil der Ausstattung gleich jetzt vollständig fertigstellen, den größeren aber später nachschicken, und sie war recht ärgerlich auf Ljewin, weil er es durchaus nicht fertigbringen konnte, ihr eine ernsthafte Antwort auf die Frage zu geben, ob er mit dieser Einrichtung einverstanden sei oder nicht. Diese Einrichtung war um so zweckmäßiger, als das junge Paar gleich nach der Hochzeit auf das Gut fahren wollte, wo sie die Bestandteile des größeren Teiles der Ausstattung nicht nötig hatten.
Bei Ljewin dauerte immer noch jener Zustand der Verwirrung fort, nach dem er die Vorstellung hatte, daß er und sein Glück den wichtigsten, ja einzigen Zweck der ganzen Welt bildeten und daß er jetzt an nichts anderes zu denken und sich um nichts zu kümmern brauche, sondern alles für ihn von anderen Leuten getan und besorgt werden würde. Nicht einmal irgendwelche Pläne und Ziele für sein künftiges Leben hatte er; die Entscheidung darüber stellte er anderen anheim, in der zuversichtlichen Überzeugung, daß sich auf diese Art alles wunderschön gestalten werde. Sein Bruder Sergei Iwanowitsch, Stepan Arkadjewitsch und die Fürstin gaben ihm in allen Dingen Anweisung, was er zu tun habe, und er war immer mit allem, was sie ihm vorschlugen, völlig einverstanden. Sein Bruder nahm eine Hypothek für ihn auf; die Fürstin riet ihm, nach der Hochzeit aus Moskau wegzufahren.
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