Anna Karenina
hindert?« fragte Lydia Iwanowna. »Aber das ist eine
unrichtige Anschauung. Für die Gläubigen gibt es keine Sünde; die Sünde ist schon abgebüßt. Verzeihung«, fügte sie
mit einem Blick auf den Diener hinzu, der wieder mit einem zweiten Brief ins Zimmer trat. Sie las den Brief und
erledigte die Beantwortung mündlich: »Sagen Sie: morgen, bei der Großfürstin.« Dann fuhr sie in dem Gespräche fort:
»Für den Gläubigen gibt es keine Sünde.«
»Ja, aber der Glaube ohne Werke ist tot«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch, der sich aus dem Religionsunterrichte
an diesen Satz erinnerte; seine unabhängige Stellung suchte er jetzt nur noch durch ein Lächeln zu wahren.
»Da haben wir's! Die bekannte Stelle aus der Epistel des Apostels Jakobus!« sagte Alexei Alexandrowitsch, sich
zu Lydia Iwanowna wendend; aus seinen Worten klang eine Art von Vorwurf heraus, und es war klar, daß sie über
diesen Gegenstand schon wiederholt gesprochen hatten. »Wieviel Schaden hat die falsche Auslegung dieser Stelle
nicht schon angerichtet! Nichts ist in höherem Grade geeignet, vom Glauben abzuhalten, als diese Auslegung. ›Ich
habe keine Werke, also kann ich auch nicht glauben.‹ Und doch ist das nirgends gesagt, sondern vielmehr gerade das
Gegenteil.«
»Sich für Gott abmühen und durch Arbeit und Fasten seine Seele zu retten suchen«, sagte die Gräfin Lydia
Iwanowna im Tone des Widerwillens und der Geringschätzung, »das sind die rohen Vorstellungen unserer Mönche ... Und
doch ist das in der Heiligen Schrift nirgends gesagt. Die Sache ist weit einfacher und leichter«, fügte sie hinzu
und sah Oblonski mit demselben ermutigenden Lächeln an, mit dem sie bei Hofe die jungen, durch die neue Umgebung
verschüchterten Hofdamen zu ermutigen pflegte.
»Wir sind erlöst durch Christus, der für uns gelitten hat. Wir sind erlöst durch den Glauben«, fügte Alexei
Alexandrowitsch bekräftigend hinzu, nachdem er schon vorher ihren Worten durch seine Blicke Beifall gezollt
hatte.
»Vous comprenez l'anglais?« 2 fragte Lydia
Iwanowna, und als sie eine bejahende Antwort erhalten hatte, stand sie auf und suchte unter den Büchern auf einem
Bücherbrett. »Ich möchte Ihnen Safe and Happy oder Under the Wing 3 vorlesen«, sagte sie mit einem fragenden Blick auf Karenin. Und nachdem sie das Buch
gefunden und sich wieder auf ihren Platz gesetzt hatte, schlug sie es auf. »Es ist ganz kurz. Hier ist der Weg
beschrieben, auf dem man zum Glauben und zu jener hoch über allem Irdischen stehenden Glückseligkeit gelangt, die
dabei unsere Seele erfüllt. Der Gläubige kann nicht unglücklich sein, weil er nicht allein ist. Aber Sie werden
gleich selbst sehen.« Sie wollte eben anfangen zu lesen, als schon wieder der Diener hereinkam: wann sie Herrn
Borosdin empfangen wolle. »Herrn Borosdin? Sagen Sie: morgen um zwei Uhr. – Ja«, sagte sie, indem sie den Finger an
der betreffenden Stelle als Lesezeichen im Buche hielt und mit ihren sinnenden, schönen Augen vor sich hinblickte.
»Da sieht man, wie der wahre Glaube wirkt. Kennen Sie Marja Sanina? Wissen Sie von ihrem Unglück? Sie hat ihr
einziges Kind verloren. Sie war in Verzweiflung. Nun, und was geschah? Sie hat diesen Freund gefunden, und nun
dankt sie Gott für den Tod ihres Kindes. Das ist das Glück, das der Glaube verleiht!«
»O gewiß, das ist höchst ...«, begann Stepan Arkadjewitsch, der ganz zufrieden damit war, daß nun vorgelesen
werden sollte und er so die Möglichkeit haben werde, seine Gedanken ein bißchen zu sammeln. ›Nein‹, dachte er, ›es
ist doch wohl besser, wenn ich sie heute nicht um ihre Fürsprache bitte. Wenn ich nur mit guter Art von hier
wegkommen könnte!‹
»Sie werden sich langweilen«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, zu Landau gewendet, »da Sie kein Englisch
verstehen. Aber es ist ganz kurz.«
»Oh, ich werde es schon verstehen«, erwiderte Landau mit seinem üblichen Lächeln und schloß die Augen.
Alexei Alexandrowitsch und Lydia Iwanowna warfen einander einen bedeutsamen Blick zu, und die Vorlesung
begann.
Fußnoten
1 (frz.) Die Freunde unserer Freunde sind
auch unsere Freunde.
2 (frz.) Verstehen Sie englisch?
3 (engl.) Geborgen und glücklich oder
Unter dem Flügel.
22
Stepan Arkadjewitsch fühlte sich ganz benommen von all den ihm neuen, sonderbaren Reden, die er hier zu hören
bekam. Die bunte Mannigfaltigkeit des Petersburger Lebens wirkte im allgemeinen auf ihn anregend, im Gegensatze
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