Wenn Die Nacht Anbricht
Vorwort
Das erste Mal traf ich Gin Phillips 1997 in Birmingham in Alabama, als ich den Ko-Vorsitz des Birmingham-Southern College GALA Weekend Women of Distinction Awards innehatte. Gin Phillips war die Studentin, die mir für das Wochenende als Begleitung zugewiesen worden war. Während wir von einer Veranstaltung zur nächsten eilten, erwähnte sie, dass sie gern Schriftstellerin werden würde. Da Studenten diese Idee immer wieder äußern, wünschte ich ihr alles Gute und vergaß dann das Ganze wieder. Als ich einige Zeit später jedoch einen Brief von Hawthorne Books erhielt, in dem ich gebeten wurde, das Buch einer jungen Autorin aus Alabama zu lesen, durfte ich überrascht und erfreut feststellen, dass es sich um genau jene Gin Phillips handelte und sie offenbar nicht nur davon gesprochen und geträumt, sondern sich tatsächlich hingesetzt und ein Buch geschrieben hatte. Und nicht nur das: Es ist auch ein wunderbares Buch geworden!
Ich kenne Alabama gut. Wenn die Nacht anbricht erschuf diese Landschaft für mich aufs Neue. Allerdings lässt der Roman nicht nur den Ort vor dem inneren Auge des Lesers aufsteigen, sondern auch das dortige Leben – beziehungsweise mehrere solcher Leben –, eine Kleinstadt und eine Familie voller Hoffnungen, Eigenarten und heimlicher Ängste. Das Dasein besteht für die Moores vor allem aus den wesentlichen Dingen: aus harter Arbeit, aus der Familie sowie dem Geschmack und dem Geruch des Landes und der Heimat. Ihre Welt kreist um Carbon Hill, eine Kleinstadt mit dreitausend Einwohnern. Damals gab es noch keine »Fireside Chats« (eine Serie von dreißig Radioansprachen Franklin D. Roosevelts, die zwischen 1933 und 1944 ausgestrahlt wurde – Anm. d. Ü.), kein übriges Geld für eine Zeitung und im Radio nur die gelegentliche »Grand Ole Opry« (seit 1925 die langlebigste Radioshow der USA). Das Alabama des Jahres 1931 wird in diesem Roman greifbar und lebendig. Das Gewebe dieser Geschichte besteht aus den häuslichen Details, der Art, wie eine Mutter damals die Böden wusch, bis hin zum Flackern der Lichter während eines Gewitters. Es ist ein Stoff, dicht gewebt aus dem Alltag und der erschöpfenden Tätigkeit beim Kohleabbau. Und es ist ein Stoff durchsetzt mit den Phantasien und Komplotten junger Mädchen.
Es besteht immer die Gefahr, die Vergangenheit zu idealisieren, sie nostalgisch zu verklären und eine solche Geschichte zu einem Abklatsch der Waltons zu machen. Denn zugegebenermaßen ist es eine verlockende Vergangenheit – mit unversperrten Haustüren, engen Familienbanden, gemeinsamen Abendessen voller Gespräche und Gelächter und noch ohne Fernsehapparat. Doch haben wir es hier keineswegs mit einer Verklärung zu tun. Es wird nämlich auch eine Vergangenheit voller Widrigkeiten dargestellt – mag es die Barriere zwischen den Ethnien oder eben ein Säugling in einem Brunnen sein. Hinter dem gesüßten Eistee und den langen Nächten auf der Veranda lauert stets die Tragödie, greifbar nahe und immer im Bereich des Möglichen. Für einen Bergarbeiter gehörte der Gedanke, dass er am Abend vielleicht nicht mehr nach Hause kommen könnte, ebenso zum Morgen wie ein Becher Kaffee. Die Moores leben ohne Sicherheiten, ohne Schutz vor dem Schlimmsten. Sie haben nur Albert Moores Gesundheit und seinen Lohn.
Der Roman beginnt mit einem Baby, das in einen Brunnen geworfen wird. Trotzdem ist er auch humorvoll und unterhaltsam. Es gibt darin keine vorhersehbaren Muster.
Wenn man Tess und Virgie dabei zusieht, wie sie Carbon Hill nach der Brunnenfrau durchsuchen, wenn man mit Albert in die Gruben hinabgeht oder Leta auf dem Weg in ein Birminghamer Krankenhaus begleitet, dann folgt man ihnen stets hautnah.
Sie werden die Figuren vermissen, sobald Sie dieses Buch zuklappen. Wenn die Nacht anbricht schenkt einem nicht nur Figuren, die man nicht mehr vergisst – es schenkt einem eine ganze Welt!
FANNIE FLAGG
Autorin von Grüne Tomaten
1 Der Ruf des Wassers
Tess
Nachdem sie das Baby hineingeworfen hatte, glaubte mir lange Zeit niemand ein Wort. Aber ich hörte immer wieder dieses Platschen.
Die hintere Veranda liegt direkt vor unserer Küche. Sie hat breite graubraune Dielen, zwischen denen man leicht einen Penny verlieren kann, wenn man nicht aufpasst. Die Bretter waren von der Augusthitze noch ganz warm, aber das Atmen fiel weniger schwer als während des Tages. Nach dem Abendessen befanden sich alle auf der vorderen Veranda, so dass ich für mich sein
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