Anna Strong Chronicles 01 - Verführung der Nacht
Sekunde bemerke ich eine Bewegung irgendwo vor mir, tief in den Schatten.
Ich höre ein Klick, als eine Armbrust gespannt wird, und weiß, dass mir nur ein Augenblick Zeit bleibt, bevor sich dieses Summen in einen Pfeil verwandelt, der auf meine Brust zufliegt. Ich hechte hinter ein Grüppchen kleiner Felsbrocken, die einzige Deckung weit und breit. Ich ducke mich tief und versuche, mich möglichst klein zu machen. Das Summen kommt näher, und ein Pfeil zischt über meinen Kopf hinweg.
Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich schicke meine geistigen Fühler aus und versuche, irgendetwas aufzuschnappen, vielleicht den Angreifer zu identifizieren. Aber es kommt nichts zurück. Ich kann nicht einmal bestimmen, ob der Schütze Mensch oder Vampir ist, männlich oder weiblich.
Nicht, dass das einen Unterschied machen würde. Ein hölzerner Pfeil durchs Herz ist fatal, ganz gleich, wer die Armbrust hält.
Diese wird nun wieder geladen. Übermenschliches Gehör ist nicht immer ein Segen. Ich wappne mich für den Schuss und grabe mich in den Dreck wie ein Maulwurf. Wieder dieses Schwirren und der stumme Lufthauch, als der Pfeil vorbeisaust. Wie oft will er es denn noch versuchen? Diese Frage wird gleich darauf beantwortet, als der nächste Pfeil geflogen kommt. Aber diesmal hat der Schütze besser gezielt. Ich schreie auf, als sich der Pfeil in meine linke Wade bohrt. Ich hatte mich darauf konzentriert, meinen Oberkörper zu schützen. Die Deckung reichte nicht für die Beine. Offensichtlich ist das nicht unbemerkt geblieben.
Glühend heißer Schmerz rast durch meinen Körper und sammelt sich in meiner Brust. Das ist kein tödlicher Schuss, aber die Wunde wird mich behindern, wenn ich versuche zu fliehen falls ich das versuchen werde. Ich strecke den Arm aus und zerre an dem Pfeil. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schnell Vampire heilen, aber es tut trotzdem höllisch weh, als der Pfeil mein Fleisch zerreißt. Vor Schmerz und Zorn brennen Tränen auf meinem Gesicht. Ich umklammere den Pfeil, weil er eine gute Waffe abgeben würde, falls der Angreifer ein Vampir sein und auf die Idee kommen sollte, für den tödlichen Schuss näher heranzukommen.
Ich hoffe, dass er das tut. Zusätzlich zu dem Pfeil ziehe ich noch den Revolver aus dem Schulterhalfter. Jetzt bin ich für alles bereit.
Aber nichts geschieht. Keine weiteren Pfeile. Keine Schritte in der Nacht. Ich höre nichts außer der Musik aus dem Saloon hinter mir, die ich durch meine intensive Konzentration auf den Angreifer bisher aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte. Ich bin ziemlich sicher, dass er weg ist. Mein vampirisches Warnsystem hat sich wieder ausgeschaltet, in meinem Kopf schrillen keine Alarmglocken mehr. Mit einem erleichterten Stöhnen strecke ich mich im Sand aus und massiere die zerfetzte Wadenmuskulatur. Ich spüre warmes, klebriges Blut an meinen Fingern. Neugierig hebe ich die Hand zum Mund und koste.
Dann trifft es mich wie ein Schlag, wie ekelhaft das ist, was ich gerade tue. Nicht zu fassen, dass ich mir das eigene Blut von den Fingern schlecke. Trotzdem.
Die Hand stiehlt sich wieder hinab, um mehr zu holen. Es schmeckt nicht übel.
Anna, reiß dich zusammen. Meine kleine Stimme ist wieder da. Und mit ihr eine Woge von Traurigkeit, die mich bis ins Innerste erschüttert. David.
Ich bin bei der Suche nach ihm keinen Schritt vorangekommen. Donaldson war meine einzige Hoffnung. Bei diesem Fiasko habe ich nur eines in Erfahrung gebracht, ich bin ziemlich sicher, dass er mir die Wahrheit gesagt hat. Er hat David nicht entführt.
Aber er dachte, er wüsste, wer es getan hat. Hat er zumindest behauptet. Himmel. Vorsichtig setze ich mich auf. Ich suche die Umgebung ab und entdecke nichts als Wüste. Keine Lebewesen, außer solchen, die hoppeln, krabbeln oder gleiten. Davon bekomme ich noch als Tote eine Gänsehaut.
Ich überlege, ob ich mir einen von Donaldsons Vampirkumpeln schnappen soll, der seine Geschichte vielleicht bestätigen könnte. An einem Ort wie diesem wäre ein Entführungsopfer wertvolle Tauschware, so gut wie bares Geld. Vielleicht hat er damit angegeben und sogar ausgeplaudert, wo er den Kerl versteckt hält. Aber das bezweifle ich. Donaldson war mir geistig völlig ausgeliefert und hat mir dabei nichts verraten. Und zum Schluss hatte er wirklich Angst. Er wusste, dass ich ihn töten wollte.
Hier kann ich also nichts mehr tun. Mit einem weiteren Stöhnen rapple ich mich auf. Mein rechtes Bein gibt ein wenig nach, als ich es
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