Anne in Kingsport
weichweiße Gebilde fern am Horizont. Der Himmel schimmerte blau und silbrig. Stille legte sich über die Erde. Anne erhob sich und schlich nach unten. Frischer Wind blies in ihr blasses Gesicht, als sie auf den Hof hinausging, und kühlte ihre brennenden Augen. Ein fröhliches, ausgelassenes Pfeifen war auf dem Hohlweg zu hören. Kurz darauf kam Pacifique Buote in Sicht.
Annes Kräfte ließen plötzlich nach. Hätte sie sich nicht an einem tief hängenden Weidenzweig festgehalten, wäre sie gestürzt. Pacifique war George Fletschers Bursche, und George Fleischer war der Nachbar der Blythes. Mrs Fletscher war Gilberts Tante. Pacifique würde wissen, ob . .. ob . .. Pacifique würde wissen, was sie wissen wollte.
Pacifique kam festen Schrittes und pfeifend den roten Weg hinauf. Er bemerkte Anne nicht. Sie machte drei vergebliche Anläufe, ihn zu rufen. Er war schon fast an ihr vorbei, bis sie mit zitternden Lippen »Pacifique!« herausbrachte.
Pacifique drehte sich lachend und mit einem fröhlichen guten Morgen um.
»Pacifique«, sagte Anne schwach, »kommen Sie gerade von den Fletschers?«
»Klar«, sagte Pacifique liebenswürdig. »Hab gestern Nachricht gekriegt, dass mein Vater krank ist. Es hat aber so gestürmt, dass ich nicht gleich losgehen konnte, also bin ich heute in aller Herrgottsfrühe losmarschiert. Nehme die Abkürzung da durch den Wald.«
»Wissen Sie vielleicht, wie es Gilbert Blythe geht?« Verzweiflung hatte Anne zu der Frage getrieben. Selbst die schlimmste Nachricht war noch erträglicher als diese grauenvolle Ungewissheit.
»Geht ihm besser«, sagte Pacifique. »Seit heute Nacht. Der Doktor sagt, dass er jetzt übern Berg ist. Ist grad noch davongekommen! So ein Kerl, da hat er nun gerade das College geschafft! So, muss mich beeilen. Mein alter Vater will mich möglichst schnell zu Gesicht kriegen.«
Pacifique ging weiter und fing wieder an zu pfeifen. Anne starrte ihm nach mit Augen, aus denen Freude all die Höllenquälen der Nacht vertrieben hatte. Er war sehr mager, zerlumpt und hässlich. Aber in ihren Augen war er so schön wie einer, der eine frohe Botschaft bringt. Nie, ihr ganzes Leben nicht, würde Anne Pacifiques braunes, rundes, dunkeläugiges Gesicht vor sich sehen, ohne die herzliche Erinnerung an den Augenblick, als er ihr statt einer traurigen die gute Nachricht überbracht hatte.
Noch lange nachdem Pacifiques fröhliches Pfeifen zu einer schelmenhaften Musik und unter den Ahornbäumen der Liebeslaube schließlich ganz verklungen war, stand Anne unter den Weiden und schmeckte die würzige Süße des Lebens, wenn einmal eine große Gefahr abgewendet ist. Der Morgen war voller Dunst und Zauber. In einer Ecke dicht bei ihr erblickte sie voller Überraschung neu erblühte, mit kristallfarbenem Tau bedeckte Rosen. Das Trillern und Tirilieren der Vögel über ihr in dem ausladenden Baum stand in vollkommenem Einklang mit ihrer Stimmung. Ein Satz aus einem sehr alten, sehr wahren, wundervollen Buch fiel ihr ein:
»Mag man auch eine ganze Nacht hindurch weinen, am Morgen folgt darauf Freude.«
41 - Und die Liebe siegt doch
»Ich wollte dich fragen, ob wir nicht heute Nachmittag wie früher durch den Herbstwald spazieren können«, sagte Gilbert, der plötzlich an der Veranda aufgetaucht war. »Wir könnten zu Hester Grays Garten gehen.«
Anne, die auf der Steinstufe saß und im Schoß hellen, zarten, grünen Stoff liegen hatte, blickte einigermaßen verdutzt auf. »Ich würde gern«, sagte sie langsam, »aber es geht wirklich nicht, Gilbert. Ich muss heute zu Alice Penhallows Hochzeit, weißt du. Vorher muss ich noch dies Kleid herrichten, und bis ich damit fertig bin, muss ich auch schon aufbrechen. Schade. Ich würde wirklich liebend gern mitkommen.«
»Hm, wie wäre es dann morgen Nachmittag?«, fragte Gilbert und war offensichtlich gar nicht enttäuscht.
»Ja, das geht.«
»Dann gehe ich jetzt nach Hause und erledige ein paar Dinge, die ich sonst morgen Nachmittag machen müsste. Alice Penhallow heiratet also heute. Das ist deine dritte Hochzeit in dem Sommer - Phils, Alices und Janes. Jane werde ich nie verzeihen, dass sie mich nicht eingeladen hat.«
»Da kannst du wirklich nicht ihr die Schuld geben, wenn du bedenkst, dass die ganze riesengroße Andrews-Verwandtschaft eingeladen werden musste. Die hatte ja schon kaum Platz im Haus. Ich bin nur eingeladen worden, weil ich mit Jane befreundet bin. Mrs Harmon wollte wohl nur deshalb, dass ich komme, damit ich Janes
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