Anonym - Briefe der Lust
in einem Schreibwarengeschäft aus, kann ich dort mehr Zeit und Geld verschwenden als die meisten Frauen in Schuhläden. Ich liebe den Geruch von guter Tinte auf teurem Papier, das Gefühl einer schweren Leinenkarte zwischen meinen Fingern. Am allermeisten aber liebe ich den Anblick eines jungfräulichen Bogens, der darauf wartet, beschrieben zu werden. In jenen Momenten, bevor man den Stift auf das Papier setzt, scheint alles möglich.
Das Beste am „Speckled Toad“ ist, dass Miriam das Papier sowohl blattweise als auch paketweise verkauft. Meine Papiersammlung enthält Bögen aus cremefarbenem Leinen mit Wasserzeichen, einige handgeschöpfte Blätter aus Pflanzenfasern und Karten mit Scherenschnitt-Szenen. Ich besitze Stifte in jeder Farbe und Größe. Die meisten von ihnen waren eher preiswert, haben jedoch etwas – die Tinte oder die Farbe –, das mich reizte. Viele Jahre kaufte ich mein Papier und meine Stifte in Antiquitätengeschäften oder fand es auf Grabbeltischen und in Gebrauchtwarenläden. Als ich das „Speckled Toad“ entdeckte, war es, als hätte ich mein persönliches Nirwana gefunden.
Wenn ich etwas kaufe, stelle ich mir immer vor, dass ich es für einen wichtigen Anlass benutzen werde. Etwas Bedeutendes. Liebesbriefe, geschrieben mit einem Füllfederhalter, der sich wie selbstverständlich in die Hand schmiegt, und anschließend mit einem purpurroten Band umschlungen und einem scharlachroten Siegel versehen. Ich kaufe diese Dinge, ich liebe sie, aber ich benutze sie kaum jemals. Selbst anonyme Liebesbriefe benötigen einen Empfänger … und ich hatte keinen Geliebten.
Und außerdem, wer schreibt denn überhaupt noch? Handys, Instant Messenger und das Internet haben das Briefeschreiben überflüssig gemacht, jedenfalls fast. Dennoch besitzt eine handgeschriebene Nachricht etwas Besonderes. Etwas sehr Persönliches, das danach schreit, ernst genommen zu werden. Etwas, das weit über eine in Eile auf einen Zettel gekritzelte Einkaufsliste oder eine Unterschrift auf einer Grußkarte aus Massenfertigung hinausgeht. Und doch würde ich wohl niemals eine so bedeutsame Nachricht schreiben, ging es mir durch den Kopf, während ich mit den Fingerspitzen über den seidig-glatten Rand eines Blocks Schreibpapier mit Prägung strich.
„Hallo, Paige. Wie geht’s?“ Miriams Enkel Ari stapelte gerade einige Pakete auf dem Boden hinter dem Verkaufstresen auf. Dabei verschwand er und tauchte gleich darauf wieder auf wie ein Kastenteufel.
„Ari, mein Lieber. Ich habe noch eine Auslieferung für dich.“ Miriam trat durch die mit einem Vorhang versehene Tür hinter dem Tresen und sah ihren Enkel über ihre schmale Lesebrille hinweg an. „Jetzt sofort. Und bleib nicht wieder zwei Stunden weg, wie beim letzten Mal.“
Er rollte mit den Augen, nahm jedoch den Umschlag aus ihrer Hand entgegen und küsste sie auf die Wange. „Ja, mache ich, Grandma.“
„Guter Junge. Nun zu Ihnen, Paige. Was kann ich heute für Sie tun?“ Miriam schaute Ari mit einem liebevollen Lächeln nach, bevor sie sich mir zuwandte. Wie immer war sie tadellos zurechtgemacht, kein Härchen, das nicht an seinem Platz gewesen wäre. Miriam ist eine echte Dame. Sie ist mindestens siebzig und besitzt so viel Stil, wie ihn nur wenige Frauen haben, gleich welchen Alters.
„Ich brauche ein Geschenk für die Frau meines Vaters.“ „Ah.“ Anmutig legte sie ihren Kopf schief. „Ich bin sicher, Sie finden das perfekte Geschenk. Aber falls Sie Hilfe brauchen, lassen Sie es mich wissen.“
„Danke.“ Ich war schon so oft hier gewesen, dass sie wusste, wie sehr ich es liebte, im Laden herumzustreifen.
Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte ich damit, die neuen Lieferungen feinsten Schreibpapiers zu betrachten und zu liebkosen. Dieses Papier konnte ich mir nicht leisten, ganz gleich, wie sehr ich es mir auch wünschte.
Kira stöberte mich im hinteren Teil des Ladens auf. „Nun, Indiana Jones, wonach suchst du? Nach dem verlorenen Schatz?“
„Das weiß ich dann, wenn ich es gefunden habe.“ Ich warf ihr einen kurzen Blick zu.
Kira blickte zur Decke. „Ach je, lass uns doch einfach ins Einkaufszentrum gehen. Du weißt doch, dass es Stella völlig egal ist, was du ihr schenkst.“
„Aber mir ist es nicht egal.“ Ich konnte Kira nicht erklären, wie wichtig es mir war, Stella zu … nun, ich würde sie nicht beeindrucken können. Ich konnte sie nicht beeindrucken, und es würde mir auch niemals gelingen, sie nicht zu
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